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Calvin, Johannes

geb. am 10. Juli 1509 in Noyon (Picardie), Frankreich, gest. am 27. Mai 1564 in Genf, Schweiz; Reformator Genfs, der nicht nur den französischsprachigen Protestantismus, sondern die reformierte Konfession auch in Mittel- und Osteuropa sowie in den angelsächsischen Ländern nachhaltig prägte.

Johannes Calvin (Jean Cauvin) wurde als Sohn eines kirchlichen Beamten in der nordfranzösischen Bischofsstadt Noyon geboren und war damit schon früh für eine klerikale Berufslaufbahn bestimmt. Ab etwa 1523 begann er in Paris ein Studium der Artes liberales, das durch wechselnde, vom Vater besorgte kirchliche Pfründen finanziert wurde. 1528 drängte aber Gérard Cauvin seinen Sohn, zum Studium der Jurisprudenz zu wechseln, da dieser Beruf einträglichere Einkünfte versprach. Das neue Fach studierte Calvin gemäß neuen, streng philologisch-historischen Methoden an den humanistisch geprägten Universitäten Orléans und Bourges, wo er auch intensiv Griechisch lernte. Nach dem Tod des Vaters 1531 erfolgte ein erneuter Richtungswechsel: Calvin widmete sich nunmehr ausschließlich den alten Sprachen, wieder in Paris, wo 1532 sein erstes Werk, ein Seneca-Kommentar, erschien. Das erste unmissverständliche Zeugnis einer Hinwendung zur evangelischen Bewegung, die wohl in den letzten Monaten des Jahres 1533 erfolgt sein dürfte, finden wir in dem demonstrativen Verzicht auf seine Pfründe in Noyon am 4. Mai 1534. Im Januar 1535 musste er aufgrund der drei Monate zuvor durch die „affaire des placards“ ausgelöste Verfolgung von Protestanten nach Basel fliehen. Schon im August 1535 schloss er dort die erste Fassung seiner klassischen, bis zu seinem Tod immer wieder revidierten Dogmatik, die Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion), ab, die im März des folgenden Jahres erstmals gedruckt wurde.

Es fällt auf, in welchem Maße Calvin schon in diesem frühen Werk das Täufertum (→Täufer), eine Bewegung, die er bisher kaum genau kennen gelernt haben könnte, sehr spezifisch und auf ausgesprochen aggressive Weise angreift. Dies ist vor dem Hintergrund der Ereignisse 1534/35 in Münster zu erklären. Die Exzesse des dortigen Täuferreichs wurden von den Altgläubigen in Frankreich als typische Konsequenz der evangelischen Bewegung aufgefasst, die Anhänger Luthers in Frankreich pauschal mit „Wiedertäufern“ gleichgesetzt und deshalb als gefährliche und sittenwidrige Umstürzler verfolgt. So gibt sich Calvin in dem Widmungsbrief der Institutio an König Franz I. alle erdenkliche Mühe, das Odium des Täufertums von den französischen Evangelischen fernzuhalten und letztere als treue Staatsuntertanen und als wahre katholische Kirche darzustellen, während die zeitgleichen Wirrungen und Sektenbildungen kein spezifisch evangelisches Phänomen, sondern nur auf den Teufel und „seine Katabaptisten“ (CO 1, 23) zurückzuführen seien. Auch in dem Text der Institutio selbst greift Calvin die „Katabaptisten“ als angebliche aktuelle Erscheinungsform der altkirchlichen Häresie der Donatisten ausdrücklich an (CO 1, 115), da sie die Gültigkeit der Taufe von der Würdigkeit ihres Spenders abhängig machen und „auf die Wiedertaufe rasend dringen“ (anabaptismum furiose urgent). Aber auch ohne sie ausdrücklich zu nennen, attackiert Calvin die Täufer mehrfach in der Institutio von 1536, etwa wenn er „gewissen Leuten“ vorwirft, die Verbindung zwischen Wort Gottes und äußerem Element in den Sakramenten aufzulösen (CO 1, 102), die Taufe zum bloßen Zeichen eines menschlichen Bekenntnisses abzuwerten (CO 1, 110) oder von der Teilnahme am Abendmahl durch die menschlich unerfüllbare Forderung eines vollkommenen Glaubens abzuhalten (CO 1, 129). Calvin scheint auch die Täufer zu meinen, wenn er in dem Abschnitt über die christliche Freiheit diejenigen kritisiert, die die gesamte politische Ordnung für eine „schmutzige Sache“ halten, „die Christen nichts angeht“ (rem pollutam ad homines christianos nihil pertinentem: CO 1, 229).

Der Zuwachs an täuferfeindlichen Passagen in der 1539 in Straßburg erschienenen, zweiten Umarbeitung der Institutio ist bemerkenswert. Der Grund hierfür mag in Calvins erstem unmittelbarem Kontakt mit Täufern in Genf während seines ersten Aufenthaltes dort (Juli 1536 bis April 1538) oder auch in den seit seiner Ankunft in →Straßburg (September 1538), einem regelrechten Täuferzentrum, gewonnenen Erfahrungen liegen. Auffällig ist die wichtige Rolle, die theologische Gedanken dabei spielen, die auch schon für Calvins Gastgeber, den Straßburger Reformator Martin →Bucer, bei der Bekämpfung der Täufer zentral waren. So betont Calvin etwa die Einheit von Altem und Neuem Testament sowie die unverbrüchliche Kontinuität und unverminderte Gültigkeit des Gnadenbundes Gottes von den Erzvätern über Christus bis zur Gegenwart (CO 1, 801–830). Innerhalb dieses Konzepts übernimmt die Kindertaufe die bisher der Beschneidung zustehende Würde eines von Gott eingesetzten Bundeszeichens (CO 1, 968–990). Gerade weil das Heil des Menschen ausschließlich in Gottes Bundeszusage und in seiner Erwählung begründet liegt und auf diese Weise jeglichem menschlichen Zugriff entzogen ist, könne es nicht von einer äußeren Handlung wie der Erwachsenentaufe abhängig gemacht werden. Auch dem ethischen Rigorismus der Täufer tritt Calvin entgegen, in dem er den unvollendeten Charakter der Kirche als eines „corpus permixtum“ hervorhebt (CO 1, 546–548) und Mäßigung bei der Verwendung der Kirchenzucht, die Calvin durchaus befürwortet, fordert (CO 1, 550–553).

Die Position, die Calvin gegenüber den Täufern in den ersten beiden Ausgaben der Institutio (1536 und 1539) einnimmt, bleibt in allen weiteren Umarbeitungen dieses Werkes (1543, 1550 und 1559) in ihren Grundzügen bestehen (vgl. in der letzten Fassung der Institutio vor allem die Abschnitte 2.8.26, 2.10.1, 2.10.7, 3.3.2, 3.3.14, 3.23.8, 4.1.13, 4.1.23, 4.12.12, 4.15.16 und 4.16.31).

Auch auf einer persönlichen Ebene suchte Calvin in Straßburg die Auseinandersetzung mit den Täufern. Im Zuge seiner Einbürgerung in Straßburg am 29. Juli 1539 trat er demonstrativ der Schneiderzunft bei, die als Sammelbecken für Täufer galt. Es gelang ihm sogar, einige täuferische Glaubensflüchtlinge aus dem niederländischen und nordfranzösischen Raum, deren Bekanntschaft er bereits in Genf gemacht hatte und die inzwischen Zuflucht in Straßburg gesucht hatten, von ihren täuferischen Ansichten abzubringen, etwa Herman de Gerbihan und Jean Stordeur. Nachdem letzterer im Frühjahr 1540 an der Pest gestorben war, heiratete Calvin im August desselben Jahres seine Witwe, Idelette de Bure (gest. 1549).

Nach seiner endgültigen Rückkehr nach Genf (September 1541) und bis zu seinem Tod äußerte sich Calvin nur zweimal (wenn man von seinem eher gegen Spiritualisten und „Libertinisten“ gerichteten Werk absieht, wie etwa der 1542 und 1545 veröffentlichten Psychopannychia) eingehend gegen das Täufertum. Einmal in seinem im Juni 1544 vollendeten Briève instruction pour armer tous bons fidèles contre les erreurs de la secte commune des anabaptistes (CO 7, 45–142), einer systematischen Widerlegung des Schleitheimer Bekenntnisses, das auf Veranlassung des Täufers Pierre Pelot im Raum Neuchâtel in französischer Übersetzung in Umlauf war, sodann in seiner Schrift Contra Mennonem (CO 10a, 167–176), auf Bitten des reformierten Predigers Martin Micron 1558 verfasst und an diesen gerichtet, in der er die melchioritisch beeinflusste Inkarnationslehre von Menno →Simons aufs heftigste angreift, vor allem aber die Person des Menno Simons in maßloser Polemik zu diskreditieren versucht.

Obwohl Calvin den Täufern ethischen Ernst attestierte und niemals deren Bestrafung durch den Tod befürwortet hatte, zögerte er nicht, sie zugleich als Werkzeuge Satans zu bezeichnen, da er ihren ekklesiologischen Separatismus und ihr Taufverständnis als fundamentalen Widerspruch zu seiner eigenen Theologie empfand.

Schriften

Calvini opera quae supersunt omnia (CO), hg. von Wilhelm Baum/August Eduard Kunitz/Eduard Reuss, 59 Bde. (= Corpus Reformatorum, Bde. 29–87), Braunschweig/Berlin 1863–1900; DVD-Ausgabe: Calvini opera database, bearb. von Herman J. Selderhuis u. a., Apeldoorn 2005. - Joannis Calvini opera selecta (OS), hg. von Peter Barth/Wilhelm Niesel/Dora Scheuner, 5 Bde., München 1926–1936. - Calvin-Studienausgabe, hg. von Eberhard Busch u. a., 6. Bde., Neukirchen-Vluyn 1994–2008. - Ioannis Calvini opera omnia denuo recognita et adnotatione critica instructa notisque (COR), hg. von Irena Backus u.a., Genf 1992 ff; Series II: Opera exegetica Veteris et Novi Testamenti (bisher 7 Bde.); Series III: Scripta ecclesiastica (bisher 2 Bde.); Series IV: Scripta didactica et polemica (bisher 3 Bde.); Series VI: Epistolae (bisher 1 Bd.). - Speziell mit dem Täufertum setzt sich Calvin in folgenden Schriften auseinander: Briève instruction pour armer tous bons fidèles contre les erreurs de la secte commune des anabaptistes (Sommer 1544), CO 7, 45–142 (englische Übersetzung: Treatises against the Anabaptists and against the Libertines, hg. und übers. von Benjamin W. Farley, Grand Rapids 1982, 11–158). Zwar greift sein unter dem Namen Psychopannychia bekannter Traktat (1. Aufl. 1542 noch unter dem Titel Vivere apud Christum, non dormire, animas sanctas assertio, die 2. Aufl. von 1545 trägt den Titel Psychopannychia, qua repellitur quorundam imperitorum error, qui animas post mortem usque ad ultimum judicium dormire putant) „anabaptistae“ namentlich an, gemeint sind aber in engerem Sinne Spiritualisten.

Literatur

Willem Balke, Calvijn en de doperse radikalen, Amsterdam 1973 (engl. Übersetzung: Calvin and the Anabaptist Radicals, Grand Rapids 1981; dt. Übersetzung: Calvin und die Täufer, Minden 1985). - Ders., Calvin und die Täufer, in: Calvin Handbuch, hg. von Herman J. Selderhuis, Tübingen 2008, 147–155. - Richard C. Gamble, Calvin's controversies, in: The Cambridge Companion to John Calvin, hg. v. Donald K. McKim, Cambridge 2004, 188–204. - David A. Haury, English Anabaptism and Calvin's Briève Instruction, in: Mennonite Quarterly Review, 57, 1983, 145–151. - J. G. de Hoop Scheffer, Calvijn tegen Menno Simons, in: Doopsgezinde Bijdragen 1873, 80–103. - Abraham Hulshof, Geschiedenis van de Doopsgezinden te Straatsburg van 1525 tot 1557, Amsterdam 1905 (dort Kapitel 11: „Calvijn en de Doopsgezinden“, 186–201). - Jung-Uck Hwang, Der junge Calvin und seine Psychopannychia, Frankfurt/M. 1991. - Galen Johnson, The development of John Calvin's doctrine of infant baptism in reaction to the Anabaptists, in: Mennonite Quarterly Review, 73, 1999, 803–823. - Walther Köhler, Das Täufertum in Calvins Institutio von 1536, in: Mennonitische Geschichtsblätter, 2, 1937, 1–4. - Hans Rudolf Lavater, Calvin und die Täufer – Zur Entstehung der Briève Instruction 1544, in: Martin Sallmann / Hans Rudolf Lavater-Briner / Moisés Mayordomo [Hg.], Johannes Calvin 1509–2009, Zürich 2012, 53–120. - Barbara Nelson Gingerich, Property and the Gospel: two Reformation perspectives, in: Mennonite Quarterly Review, 59, 1985, 248–267. - Hans Scholl, Der Geist der Gesetze. Die politische Dimension der Theologie Calvins dargestellt besonders an seiner Auseinandersetzung mit den Täufern, in: Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, hg. von Peter Opitz, Zürich 2003, 93–125. - Richard Stauffer, Zwingli et Calvin, critiques de la Confession de Schleitheim, in: The Origins and Characteristics of Anabaptism. Les Débuts et les caractéristiques de l'Anabaptisme. Proceedings of the colloquium organized by the Faculty of Protestant Theology of Strasbourg. Actes du colloque organisé par la Faculté de Théologie Protestante de Strasbourg (20 – 22 February/Février 1975), hg. von Marc Lienhard, Den Haag 1977, 126–147. - Karl H. Wyneken, Calvin and Anabaptism, in: Concordia Theological Quarterly, 36, 1965, 18–26 (Neudruck in: Articles on Calvin and Calvinism, hg. v. Richard C. Gamble, Bd. 5: Calvin's Opponents, New York 1992, 2–13). - Friedrich Otto zur Linden, Melchior Hofmann. Ein Prophet der Wiedertäufer, Haarlem 1885.

Stephen E. Buckwalter

 
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