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Wieler, Johann

geb. am 23. November 1839 in Rosenthal (Chortitza), Russland, gest. am 30. Juli 1889 in Bukarest, Rumänien. Prediger der Mennonitischen Brüdergemeinde, Gründer und erster Vorsitzender des Missionskomitees der russischen Baptisten.

Johann Wieler war das dritte Kind in der Familie des Lehrers Johann Wieler, er durchlief eine Lehrerausbildung in Chortitza und erlebte mit siebzehn Jahren seine Bekehrung zu einem aktiven Glauben an Jesus Christus. Von 1859 bis 1862 war er im Fürsorgekomitee für ausländische Ansiedler in Südrussland in Odessa tätig. In dieser Stadt begegnete er deutschen Pietisten und gründete einen der ersten Kreise pietistisch erweckter Russen und Ukrainer im Zarenreich. Nach der Rückkehr in seine Heimatkolonie schloss er sich der kurz vorher entstandenen →Mennoniten-Brüdergemeinde (MBG) in Chortitza an. Hier wurde er aufgrund seiner guten Russischkenntnisse mit der Vertretung der Gemeinde vor Regierungsbehörden beauftragt. Wieler wurde auch von den inneren Konflikten der jungen Brüdergemeinde mitgerissen, in denen er eine gemäßigte Position vertrat. 1865–1868 leitete er eine private Schule in Berdjansk.

1868–69 bildete sich Wieler am privaten Evangelischen Seminar in Muristalden bei Bern in der Schweiz weiter. Auf der Rückreise in die Heimat knüpfte er Kontakte zu pietistischen Kreisen in Deutschland und lernte Johann Gerhard Oncken sowie die Baptistengemeinde in Hamburg kennen. Nach seiner Rückkehr in die russische Heimat wurde er im Juni 1869 in Alt-Danzig Augenzeuge der Taufe eines der bedeutendsten ukrainischen Baptisten der ersten Stunde, nämlich E. Zymbals, an dem Abraham Unger die Untertauchtaufe vollzog. Ende 1869 zog Wieler nach Odessa. Hier gründete er zusammen mit H. Maier eine deutsche Baptistengemeinde und nahm Kontakt zu russischen pietistisch geprägten Gläubigen auf. Er überzeugte sie von der Notwendigkeit, eigene Baptistengemeinden zu gründen, entwarf ihr erstes Glaubensbekenntnis und setzte sich für ihre Rechte ein. Im Februar 1872 wurde Wieler bei einer Abendmahlsfeier mit russischen Baptisten verhaftet, dann aber für mehrere Jahre unter Polizeiaufsicht gestellt. Im Mai 1872 berief ihn die erste Konferenz der MBG in das neu gegründete Missionskomitee und bestimmte ihn zu einem der sieben Reiseprediger. Auf der Rückreise von der Konferenz nach Odessa heiratete er in Friedensfeld Helena Thielmann. Trotz Polizeiaufsicht reiste Wieler in den deutschen und ukrainischen Dörfern viel umher, um Versammlungen auf evangelistische Weise abzuhalten und vor allem unter russischen Baptisten zu wirken. 1874 entzog ihm aber die Konferenz der MBG die Unterstützung, und er entschied sich, auf eigene Faust, unabhängig von seiner Kirche, weiterhin unter der russischen Bevölkerung zu evangelisieren, obwohl er damit den Argwohn der staatlichen Behörden auf sich zog. Um sich über Wasser zu halten, nahm Wieler wieder den Lehrerberuf auf und gründete 1875 eine private Schule in Nikopol. In den Jahren 1879–1883 lehrte er in der Zentralschule in Halbstadt (Molotschna).

Zu Beginn der 1880er Jahre setzte sich Wieler das Ziel, die vielförmige russische Erweckungsbewegung zu konsolidieren. 1881 nahm er Kontakt zu dem einflussreichen Leiter der Erweckungsbewegung in St. Petersburg, W. Paschkow, auf. Davon zeugen zahlreiche Briefe. Im Jahr 1882 lud er auf eigene Initiative neunzehn russische Prediger zur Jahreskonferenz der MBG ein, deren Vertreter dann auch als Reiseprediger von der Konferenz verpflichtet wurden. Als die Konferenz sich 1883 von der Arbeit unter der einheimischen Bevölkerung endgültig distanzierte, stellte sich Wieler in den vollzeitlichen Dienst unter russischen Baptisten und wurde dafür von Paschkow mit einem jährlichen Stipendium unterstützt. 1884 rief er die erste selbstständige Konferenz der russischen Baptisten zusammen, die ein eigenes Missionskomitee unter seiner Leitung gründete. Wie die Baptisten es heute sehen, gilt er als erster Präsident des russischen Baptistenbundes.

Ab 1885 wurde Wieler aufgrund seiner Tätigkeit verfolgt und sah sich gezwungen, ein Jahr später Russland zu verlassen. Er hielt sich vorübergehend in Berlin auf und schloss sich dort einer Baptistengemeinde an. Als seine Aufenthaltserlaubnis nach acht Monaten abgelaufen war, zog er nach Rumänien weiter, wo er in Tultscha die Leitung einer russischen baptistischen Exilgemeinde übernahm. Beim Bau einer Kapelle verunglückte er und starb an den Folgen des Unfalls noch vor Vollendung seines 50. Lebensjahres.

Wieler war einer der ersten Mennoniten, die sich der von den deutschen pietistischen Kolonisten initiierten Erweckungsbewegung unter der russischen Bevölkerung öffneten. Diese Erweckungsbewegung wurde unter dem Namen der „Stundisten“ bekannt. Teile dieser Bewegung erhielten unter dem Einfluss der MBG und der deutschen Baptisten ein stärkeres konfessionelles Profil. Die Konsolidierung der Erweckungsbewegung von der Ukraine bis in den Kaukasus ist in einem hohen Maße mit dem Namen Wielers verbunden. Eindrucksvoll ist das Zeugnis, das Wieler in einem autobiographisch eingefärbten Aufruf zur Mission unter der russisch-orthodoxen Bevölkerung ablegte.

Archivalien

Center for Mennonite Brethren Studies, Winnipeg: Wieler, Johann, Tagebuch vom ersten Januar 1872 bis 1883, vol. 1108, 14:2; Predigten, 1883–4, vol. 1108, 14:1; Predigten, 1888, vol. 1108, 14:1; Predigten, vol 1108, 14:1. - University of Birmingham, Special Collections Department: Colonel V.A. Pashkov Papers: Letters from Wieler, 1884–1889, File 2/25. - Mennonite Heritage Center Archives, Winnipeg: Martens, H., Großmutters Brief. An Autobiography by Helena (Wieler) Martens née Thielmann (1851–1928), vol. 3749:11.

Literatur

Lawrence Klippenstein (Hg. und Übers.), Johann Wieler (1839–1889) among Russian Evangelicals: A New Source of Mennonites and Evangelicalism in Imperial Russia, in: Journal of Mennonite Studies, 5, 1987, 44–60. - P.M. Friesen, Die Alt-Evangelische Mennonitische Brüderschaft in Rußland (1789–1910) im Rahmen der mennonitischen Gesamtgeschichte. Halbstadt 1911. - Aron A. Töws, Mennonitische Märtyrer der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart. Winnipeg 1949, 29–30. - Waldemar Gutsche, Westliche Quellen des russischen Stundismus. Kassel 1956. - Michael Klimenko, Anfänge des Baptismus in Südrussland (Ukraine) nach offiziellen Dokumenten, Diss. Erlangen 1957. - Samuel Nesdoly, Evangelical Sectarianism in Russia: A Study ofg Stundists, Baptists, Pashkovites; and Evangelical Christians, 1855–1917, unveröfftl. Diss., Queen´s University, Kingston, Ont., 1971. - J. A. Toews, A History of the Mennonite Brethren Church. Fresno, Cal., 1975. - Wilhelm Kahle, Evangelische Christen in Russland und der Sowjetunion. Ivan Stepanovich Prochanow (1969–1935) und der Weg der Evangeliumschristen und Baptisten. Wuppertal und Kassel, 1978. - James Urry, Nur Heilige. Mennoniten in Russland, 1789–1889. Steinbach, Manitoba, 2005. - Aleksij [episkop] (Hg.), Materialy dlja istorii religiosno-razionalistitscheskogo dwishenija na juge Rossii wo wtoroj polowine XIX-go stoletija. Kasan, 1908. - Istorija ewangelskich christian-baptistow w SSSR. Moskau, WSECHB, 1989. - Sergej N. Sawinskij, Istorija ewangelskich christian-baptistow Ukrainy, Rossii, Belorussii (1867–1917). St. Petersburg, 1999.

Johannes Dyck

 
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