Williams, George Huntston

geb. am 7. April 1914 in Huntsburg, Ohio, USA, gest. am 6. Oktober 2000 in Cambridge, MA, USA; Kirchenhistoriker.

Als Sohn eines sozial radikal eingestellten Pastors der Unitarischen Kirche wurde George H. Williams in der St. Lawrence University (New York State) und an der Meadville Theological School in Chicago, Illinois, ausgebildet. Heute ist Meadville Lombard Theological School ein Seminar der Unitarian Universalist Association. Während der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts studierte er eine Zeitlang in München, Paris, und Straßburg und hatte ein Pfarramt in einer unitarischen Gemeinde übernommen, bevor er 1941 in den Lehrkörper der Starr King School for Ministry in Berkeley, Cal., eintrat, ebenfalls einem unitarischen Seminar. Gleichzeitig nahm er Forschungen für eine Dissertation auf und erwarb 1946 den theologischen Doktorgrad in Kirchengeschichte. Ein Jahr später wurde er in den Lehrkörper der Harvard Divinity School aufgenommen; 1981 trat er in den Ruhestand. Während seiner langen Laufbahn an der Harvard University war er lange Zeit Acting Dean und Hollis Professor of Divinity.

Obwohl seine Dissertation der mittelalterlichen Kirchengeschichte galt, verfolgte Williams weitgestreuten Interessen. Viele Jahre lang bot er einen Überblickskurs in Kirchengeschichte vom Neuen Testament bis zur Gegenwart an. Auch seine Veröffentlichungen waren weit gespannt, so schrieb er über die Geschichte der Harvard University Divinity School und in späteren Jahren über die polnische Reformation und Papst Johannes Paul II.

Williams hatte sich der Radikalen Reformation zugewandt, nachdem er gebeten worden war, Spiritual and Anabaptist Writings in einem mehrbändigen Quellenwerk Literary of Christian Classics herauszugeben. Um diese spezielle Quellenausgabe vorzubereiten, begann er sein eigenes Verständnis der protestantischen Reformation auszuarbeiten und den Ort, den die Freikirchen und Dissidenten in ihr einnahmen, zu bestimmen. Daraus waren zwei lange Abhandlungen in Church History entstanden, in denen er die Bibliografie zur Radikalen Reformation Revue passieren ließ. Er meinte, dass neben der obrigkeitlich gelenkten Reformation („Magisterial Reformation“), die er als diejenigen reformatorischen Bewegungen charakterisierte, die auf die Unterstützung durch obrigkeitliche Autorität zurückgreifen konnten, noch andere Gruppen von Bewegungen existierten, die zwar zahlenmäßig geringer, aber nichts desto weniger von gleicher theologischer und historischer Bedeutung waren. So unterschiedlich diese Bewegungen untereinander auch waren, fasste Williams sie unter dem Sammelbegriff der Radikalen Reformation („Radical Reformation“) zusammen. Er benutzte den Begriff „radikal“ nicht im gewöhnlichen Sinn von „extrem“, sondern in seinem etymologischen Sinn, nämlich einer Sache „an die Wurzel“ zu gehen (Hillerbrand 1993, 413).

Weiterhin unterteilte Williams die Radikale Reformation in drei Gruppen: Täufer, Spiritualisten und evangelische Rationalisten. Er meinte, dass diese Gruppe trotz der theologischen, linguistischen und nationalen Variationsbreite, doch Gemeinsames aufzuweisen hatten. Er zählte zehn Gemeinsamkeiten auf: ein Verständnis der Heiligen Schrift, das zwischen Alten und Neuem Testament unterschied; eine Bevorzugung des Neuen Testaments gegenüber dem Alten; eschatologischer Eifer; eine innovative Wiederaneignung mittelalterlichen Verständnisses von Mystik und Askese; eine Betonung persönlicher Heiligung; eine unorthodoxe Christologie und Trinitätslehre; ein Glaube an freiwillige Kirchenmitgliedschaft; ein Verständnis der Ehe als Bund, Antiklerikalismus und radikale Einstellungen zur Obrigkeit (Williams 1984, 3–5).

Es gab aber auch bedeutsame Unterschiede sowohl in als auch unter diesen Gruppen. Williams sah in den Täufern eine Gruppe, die sich besonders verpflichtet wusste, die neutestamentliche Struktur der apostolischen Christenheit wiederherzustellen. Er ordnete Thomas →Müntzer unter die Spiritualisten (→Spiritualismus) ein, aber nahm doch kräftiger Beispiele wie Kaspar von →Schwenckfeld in den Blick, die dazu neigten, die Sakramente abzuwerten und zu internalisieren, und wie solche, die die Sakramente ganz leugneten. Die Evangelischen Rationalisten wurden von den Italienern Camillo Renato und Faustus Socinus, die den Individualismus betonten und wie die Spiritualisten gegen die Gewalttätigkeit und Zertrennungen unter den etablierten Konfessionen reagierten. Zu dieser Gruppe gehörten relativ große Gemeinschaften in Polen, Litauen und Transsylvanien.

Die Radical Reformation war das bedeutendste Buch von Williams. 1962 erschien es zuerst auf Englisch, nach einer gründlicheren Revision kam eine Ausgabe in spanischer Sprache 1983 heraus. Eine andere überarbeitete Fassung, die die Bibliografie der vorangegangenen zehn Jahre aufnahm, erschien 1992 auf Englisch. Das ist eine enzyklopädisch orientierte Behandlung der Gestalten und Gruppen quer durch Europa geworden und bespricht Evangelische in Spanien, italienische Täufer und Sozinianer, auch polnische Brüder wie die bekannteren deutsch sprechenden Täufer.

Seit ihrem Erscheinen hat die „Radical Reformation“ über Jahrzehnte hinweg ihren Platz als eine der gelehrten klassischen Darstellungen eingenommen, ein Monument, das von der Gelehrsamkeit seines Autors zeugte. Aber dieses Buch hat auch Kritik erfahren. Williams typologischer Versuch schien gelegentlich nicht angemessen gewesen zu sein, und seine Bemühungen um theologische Kohärenz neigten dazu, Gemeinsamkeiten überzubewerten und Unterschiede herunterzuspielen. Die wohl heftigste Kritik erreichte ihn relativ früh nach der Erstveröffentlichung und monierte sein Versäumnis, Themen der Sozialgeschichte aufzunehmen, und das Ausmaß, bis zu dem viele dieser Gruppen tatsächlich Unterstützung bei den Magistraten suchten oder sogar versuchten, politische Macht selber zu erringen.

So sehr vieles durch die neueren Forschungen veraltet ist, bleibt die „Radical Reformation“ doch ein Kompendium, in dem man sich über die selteneren Gestalten und Erscheinungen informieren kann, die von der neuren Forschung bisher vernachlässigt wurden.

In Ergänzung seiner eigenen Veröffentlichungen förderte Williams Untersuchungen zur radikalen Reformation, indem er eine Generation von Doktoranden betreute, deren Veröffentlichungen und akademische Karrieren das Interesse an viele weniger bekannte Gestalten und Bewegungen des 16. Jahrhunderts erweiterten. Er unterhielt auch enge Beziehungen zu den amerikanischen Mennoniten und war über viele Jahre hin Mitglied in der Herausgeberkommission von Mennonite Quarterly Review (→Zeitschriften).

Schriften (Auswahl)

Spiritual and Anabaptist Writers, Philadelphia 1957. - The Radical Reformation, Philadelphia 1962. - La Reform Radical, Mexico 1983. - The Radical Reformation Revisited, in: Union Seminary Quarterly Review 39, 1984, 1–24. - The Radical Reformation, Third Edition, Kirkwood, MO, 1992. - The Polish Brethren: Documentation of the History and Thought of Unitarianism in the Polish Lithuanian Commonwealth and the Diaspora 1601–1685, Missoula, Montana 1980. - The Mind of John Paul II, New York 1981.

Literatur

Hans Hillerbrand, The Radical Reformation: Reflections on the Occasion of an Anniversary, in: Mennonite Quarterly Review 67,1993, 408–420 . - Walter Klaassen, From the Pillars of Hercules to the Gates of Alexander: George H. Williams and the Radical Reformation, in: Mennonite Quarterly Review 67, 1993, 421–428.- Walter Klaassen, George Huntston Williams, in: Mennonite Quarterly Review 75, 2001, 3–4.

D. Jonathan Grieser

 
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