Flucht und Deportation

1. Flucht

Die Mennoniten haben nicht nur um ihres Glaubens willen das angestammte Land verlassen (→Migration, →Aussiedler). Oft sind sie auch mitsamt der sie umgebenden Bevölkerung im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den Völkern in die Flucht geschlagen worden. Besonders in Erinnerung blieb die Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten Deutschlands in den Westen. Die Flucht vor der Gefahr, die durch den Vormarsch der sowjetischen Armee im Herbst 1944 drohte, wurde von den deutschen Behörden zunächst verboten, wie der Abzug der Bevölkerung aus Ost- und Westpreußen im Spätjahr 1944 schon mehrfach untersagt worden war. Der Zusammenbruch der Verteidigungslinien und des Durchhaltewillens sollte unter allen Umständen verhindert werden. Als die russische Armee im Januar 1945 eine Offensive bei mehr als 20 Grad Kälte und teilweise tiefem Schnee startete, war es für einen geordneten Abzug der Bevölkerung jedoch zu spät.

Nach der Besetzung ostpreußischer Orte (Nemersdorf) Ende September 1944 setzte Erschrecken und Panik ein. Das Gefühl des Ausgesetztseins und der Schutzlosigkeit griff um sich. Reisen in den Westen wurden angesichts der eingeschränkten Transportmöglichkeiten mit der Bahn und der überfüllten Straßen immer schwieriger. Die russische Winteroffensive begann am 12. Januar 1945. Erst jetzt wurde die Evakuierung in den Westen gestattet. Zwischen dem 20. und 23. Januar 1945 erhielten die Bewohner der Landkreise die Erlaubnis zur Flucht. Die vorbereiteten Evakuierungspläne erwiesen sich angesichts der anrückenden russischen Armeen und des strengen Winters als untauglich. Der feindliche Vormarsch löste eine wilde Flucht zu Fuß, zu Pferd mit Wagen voller Hausrat und Lebensmittel in Familien oder Nachbarschaftsverbänden westwärts aus. Da die Männer zumeist zum Militär oder dem sogenannten Volkssturm eingezogen waren, gingen die Alten, Mütter und Kinder oft ohne Schutz auf die Flucht.

Es boten sich zwei Wege zur Flucht an. Einmal auf dem Landweg über Weichsel, Oder und Elbe (700 km) und zum anderen mit dem Schiff von Danzig und Gotenhafen (Gydinia) aus über die Ostsee nach Schleswig-Holstein und Dänemark. Beide Wege erwiesen sich als unsicher und gefährlich. Als erstes musste die Weichsel überwunden werden. Zwischen Weichseldelta (Danzig/Marienburg) und Thorn gab es nur eine Brücke in Dirschau (Tczew), die bei Eisgang hochgezogen wurde und deshalb nicht durchgängig genutzt werden konnte. Alle Zufahrtsstraßen dorthin waren schon bald verstopft. Lange Wartezeiten mussten in Kauf genommen werden. Die russische Armee überquerte die Weichsel Ende Januar und überholte die Flüchtlingstrecks. Es kam zu Todesfällen durch Beschuss, Kälte, Hunger, Krankheiten und Entkräftung. Zahlreiche Frauen wurden vergewaltigt; auf den Straßen, Feldern, Ortschaften und Höfen herrschte Chaos. Es war schwierig, für die Nacht eine Unterkunft und Nahrung zu finden. In dem Durcheinander gingen viele Kinder verloren. Durch Artilleriefeuer, Beschuss aus der Luft und andere militärischen Aktionen der Angreifer und Verteidiger starben viele Flüchtlinge, andere erlitten gesundheitliche Schäden und psychische Belastungen, die ihnen oft im weiteren Leben zusetzten.

Viele Flüchtlinge versuchten, den russischen Eroberern auf Schiffen über die Ostsee (ca. 750 km) zu entkommen. Die Straßen nach Gotenhafen (Gdynia) waren verstopft und die Zahl der Schiffe begrenzt. Weggeworfenes Gepäck, herrenlose Pferde und Wagen sowie Fliegerangriffe gefährdeten den Verkehr. Nicht alle Schiffe erreichten einen sicheren Hafen in Schleswig-Holstein oder Dänemark. Mehrere Schiffe wurden durch im Wasser treibende Minen, Tiefflieger und U-Boote versenkt. Auch ohne Feindeinwirkung kam es zu zahlreichen Todesfällen, da die Schiffe überfüllt und die Menschen entkräftet waren. Die Reise zu Wasser, für die sonst etwa 20 bis 25 Stunden benötigt wurden, dauerte nun bis zu zehn Tage; das Ziel war die britische Besatzungszone.

Es kann geschätzt werden, dass sich zwischen acht- und zehntausend Mennoniten, Frauen, Alte und Kinder, auf den Weg machten. Etwa 1000 mögen auf der Flucht und an deren Folgen in den Auffanglagern gestorben sein. Angesichts der Schlangen an der Dirschauer Brücke oder der Unmöglichkeit, in Gotenhafen (Gydinia) auf ein Schiff zu gelangen, brachen viele die Flucht ab und kehrten in ihre verlassenen Wohnungen und Häuser zurück. Zwischen 3.000 und 5.000 Mennoniten blieben in →Westpreußen. Sie wurden nach 1945 von der polnischen Regierung, die sich auf die Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz vom August 1945 berief, unter teilweise schwierigen Bedingungen ausgewiesen. Nur wenige blieben im Lande und verloren ihre mennonitische Identität.

Die Verluste der westpreußischen Mennoniten, die die Katastrophe gegen Kriegsende erlitten, lassen sich nur ungefähr schätzen. In vielen Familien fehlten mit den Vätern auch die Ernährer. Die bitteren Erfahrungen von Flucht, Angst und Entbehrung und der Aufenthalt in den Auffanglagern belasteten nicht wenige noch Jahre lang. Neben dem Verlust von Familienangehörigen in fast jeder Familie büßten die westpreußischen Mennoniten ihre Heimat, ihr Vermögen und in den meisten Fällen ihren Beruf ein. Nur wenige konnten im angestammten Arbeitsfeld wieder Fuß fassen und ihr Auskommen finden. Erst in den 1950er Jahren waren sie in der neuen Heimat integriert und hatten dort eigene Existenzen aufgebaut. Etwa 1.000 Mennoniten wanderten nach Uruguay und Nordamerika aus (→Migration).

2. Deportation (Zwangsumsiedlung)

Von Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen wird bereits in der Bibel gesprochen, ebenso in Quellen des Altertums und Mittelalters. Mit ihnen werden unterschiedliche Absichten verfolgt: Gewinnung von Arbeitskräften, Kontrolle von Widerständigen, Eroberung von Siedlungsräumen für die eigene Bevölkerung, Vereinheitlichung des Untertanenverbandes (ethnische Säuberung). Deportationen werden in der Regel durch Obrigkeiten und Staaten veranlasst und durchgeführt. Dabei verlieren die Deportierten nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihre Rechte. Die Tendenz, innere Probleme durch zwangsweise Umsiedlungen zu lösen, hat nach dem Ersten Weltkrieg weltweit zugenommen. Im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg kam es zu „ethnischen Säuberungen“, von denen die Menschen in Osteuropa besonders betroffen waren. In der mennonitischen Geschichte können mehrere Zwangsaussiedlungen bzw. Deportationen festgestellt werden. Hier werden auswahlweise nur drei genannt: (1) Es fanden mehrere Deportationen von bernischen Täufern aus dem Emmental statt, zunächst wurden 1710 fünfzig Personen rheinabwärts deportiert, die nach Überschreiten der niederländischen Grenze das Schiff verließen und flohen. (2) 1711 wurde eine Gruppe von 400 bernischen, überwiegend amischen Täufern auf einem Konvoi von zunächst fünf Schiffen außer Landes geschafft. Die Aktion wurde von der sogenannten Täuferkammer veranlasst und durchgeführt, einer Behörde Berns zur Aufdeckung der täuferischen Aktivitäten und Rückführung in die bernische Kirche oder Verweisung des Landes mit dem Ziel einer einheitlichen kirchlichen Orientierung in Bern. Dabei arbeiteten Obrigkeit und Kirche eng zusammen. Mennonitengemeinden in den Niederlanden erklärten sich bereit, die Ausgewiesenen aufzunehmen und auch die Kosten Berns für die Deportation zu übernehmen (→Bern, Weltliche Obrigkeit und die Täufer).

(3) Die Mennoniten in der →Sowjetunion verloren ihre Heimat in mehreren Etappen. Schon zur Zeit des „großen Terrors“ wurden infolge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in den 1930iger Jahren Mennoniten als „Kulaken“ (wohlhabende Bauern) und „Feinde des Volkes“ nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Von der Verschleppung war etwa die Hälfte der erwachsenen Männer betroffen, nur wenige kamen zurück. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1941 erließ das sowjetische Regime im August 1941 mehrere Befehle, alle nicht russischen Völker (Deutsche, Tartaren, Litauer, Balten) aus den grenznahen Regionen nach Osten zu deportieren. Damit sollte verhindert werden, dass diese Gruppen mit den eindringenden Deutschen zusammenarbeiten und sich gegen das sowjetische Regime wenden könnten. Von der Deportation waren zunächst Männer zwischen sechzehn und sechzig Jahren und später ganze Familien (Frauen, Kinder und Alte) betroffen. Infolge des raschen Vorrückens der deutschen Armeen konnte die Deportation nur östlich des Dnjepr durchgeführt werden. Es wird geschätzt, dass etwa 28000 Mennoniten aus der Ukraine, der Krim und dem Kaukasus nach Sibirien und Kasachstan verschleppt wurden. Etwa 30 % der Verschleppten sollen schätzungsweise unterwegs gestorben sein. Diejenigen, die das Ziel erreichten, wurden in der sogenannten Trudarmee zur Zwangsarbeit (Landwirtschaft und Bergbau, Fabriken und im Forstwesen) eingesetzt und standen unter dem Regime der „Kommandatura“ mit ihren Meldeverpflichtungen. Ab August 1941 besetzen deutsche Truppen die Ukraine. Die Verhältnisse änderten sich nun für die Mennoniten grundlegend. Während der Besatzungszeit wurden die „Volksdeutschen“ durch die Zuteilung von Saatgut, Dünger und Maschinen bevorzugt. Nach der Besetzung der Ukraine 1941 wirkte hier die „Volksdeutsche Mittelstelle“ (VoMi) mit, ein SS-Hauptamt, das die Aufgabe hatte, die volkstumspolitischen Ziele der NSDAP durchzusetzen. In ihr waren auch Mennoniten mit russlanddeutschem Hintergrund tätig. Die Besatzer traten den Mennoniten mit besonderem Wohlwollen gegenüber. Als die deutschen Truppen nach der Niederlage von Stalingrad im Februar 1943 auf dem Rückzug waren, stellten sie den Mennoniten und anderen Volksdeutschen frei, ihre Heimat zu verlassen und mit den zurückweichenden Truppen westwärts zu ziehen. Ihnen wurden Hofstellen im Warthegau (Westpolen), aus denen die polnischen Bauern vertrieben worden waren, zur Verfügung gestellt. Es wird geschätzt, dass sich etwa 35000 Mennoniten auf den Weg machten. Ihre Zeit dort ging aber schon im Januar 1945 zu Ende, als die herannahenden Sowjetarmeen die Weichsel überschritten.

Die meisten verließen den Warthegau und versuchten, einzeln oder in Gruppen über Oder und Elbe den sowjetischen Truppen und dem Krieg zu entkommen. Diejenigen, denen die Flucht über die Elbe nicht gelang, (es wird von etwa 23000 Personen berichtet) wurden von den Sowjets festgesetzt, zu 8 oder 25 Jahren Trudarmee verurteilt und nach Sibirien verbannt. Die Zahl der im Zusammenhang mit der Deportation Verstorbenen ist unbekannt. Etwa 12.000 russlanddeutschen Mennoniten gelang die Flucht in den Westen; dort blieben nur wenige, die meisten wanderten nach Kanada (ca. 7.000) und Paraguay (ca. 5.000) weiter (diese Zahlen sind nicht zuverlässig belegt, werden aber immer wieder genannt).

Literatur

Meir Buchsweiler, Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des 2. Weltkriegs, Tel Aviv 1984. - Magdalen Dyck, Befiehl dem Herrn deine Wege, in Mennonitisches Jahrbuch 1985 42 – Frank H. Epp, Mennonite Exodus,: The Rescue and Resettlement of the Russian Mennonites since the Communist Revolution, Altona 1962. - George K. Epp, Geschichte der Mennoniten in Russland, Lage 1997. - Ders, Die große Flucht, in: Mennonitisches Jahrbuch 1985, 69. - Susanne Epp, Nach Sibirien, in: Mennonitisches Jahrbuch 1985, S.79. - Alfred Eisfeld und Victor Herdt (Hg.), Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee – Deutsche in der Sowjetunion 1941–1956, Köln 1992. - Horst Gerlach, Die Russland-Mennoniten: Ein Volk unterwegs, Selbstverlag 1992. - Frank Grube und Gerhard Richter, Flucht und Vertreibung, Deutschland zwischen 1944 und 1947, Hamburg 1981. - Charlotte Hofmann-Hege, Alles kann ein Herz ertragen, Heilbronn 1989. - Otto Hertel, Russlanddeutsche: Volk auf der Wanderschaft, Bielefeld 1990. - Hanspeter Jecker, Der große Berner Täuferexodus von 1711, in: Mennonitica Helvetica 34/35, 115 ff. - Arthur Klassen, Als Volkssturmmann im Danziger Werder, in: Mennonitisches Jahrbuch 1985, 37. - Egbert Kieser, Danziger Bucht 1945, Esslingen 1979. - Peter Letkemann, A Book of Rememberance, Mennonites in Arkadak und Zentral, 1908–1941, Winnipeg 2016. - Ders, Mennonites in the Soviet Inferno 1941–1956, in: Mennonite History, XXV, Nr. 2, Juni 1999. - Diether Götz Lichdi, Mennoniten in Geschichte und Gegenwart, Weierhof 2004. - Heinrich Pätkau, Geführt von Gottes Hand, in: Mennonitisches Jahrbuch 1985, 75. - Benjamin Pinkus und Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen in der Sowjetunion, Baden-Baden 1987. - Gerhard Rempel, Mennoniten und der Holocaust, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2010, 87 – 133. - Karl Heinz Rullmann (Hg.), Die Deutschen in der Sowjetunion, Baden-Baden 1992. - Karl Stump, Bericht über das Gebiet Kronau-Orloff, Berlin 1943. - Alice Thiessen, Mein Tagebuch, in: Mennonitisches Jahrbuch 1985, 48. - John D. Unruh, A History of the MCC, Scottdale, PA, 1959.

Diether Götz Lichdi

 
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