Autobiografie (Memoiren)

Mennoniten haben erst in letzter Zeit angefangen, Autobiografien zu verfassen. Noch gibt es in den gängigen mennonitischen Nachschlagewerken keinen Eintrag über die Gattung der Memoiren. Dass solche Schriften aber von Interesse und Bedeutung sind, auch unter den Mennoniten, zeigen die zahlreichen Autobiografien, die in den letzten Jahren erschienen sind.

1. Autobiografie als Selbstdarstellung

Autobiografie (auch Memoiren und Erinnerungsliteratur genannt) ist eine Schrift, die das Leben des Autors aus der eigenen Perspektive erzählt. Sie ist ein Grenzgänger zwischen Geschichte (history) und Literatur (fiction). Sie hat in der Regel einen größeren Objektivitätsanspruch als andere fiktionale Gattungen, wie etwa der autobiografische Roman. Doch als historisches Dokument, „wie es eigentlich gewesen“ (L. v. Ranke), ist eine Autobiografie mit großem Vorbehalt zu gebrauchen.

Allgemein bekannt sind die bedeutenden Autobiografien früherer Zeiten wie die Bekenntnisse Augustins (um 400), Peter Abaelards Historia calamitatum mearum (1133–1136), Alighieri Dantes Vita nuava (1292–1295), die von Johann Wolfgang v. Goethe übertragene Vita des Benvenuto Cellini (1569) und die Konfessionen (1782) von Jean Jacques Rousseau (s. Art. Autobiographie, in: dtv Lexikon 2, 37–38).

Bedeutende Lebenserinnerungen aus der Zeit des Pietismus sind Johann Heinrich →Jung-Stillings Memoiren (3 Bände, 1806), die unter den Mennoniten in der Pfalz und in Russland einen großen Einfluss ausübten. Besonders sein Roman Heimweh (2 Bände) trug dazu bei, dass der fantasiereiche Claass Epp um 1880 eine Gruppe von Mennoniten aus der Wolga-Gegend und Südrussland, die sogenannte „Brautgemeinde“, nach Mittelasien führte, um dort die Wiederkunft des Herrn zu erwarten. Wie bekannt, nahm das Abenteuer ein tragisches Ende.

Klassischen Rang gewann Goethes Autobiografie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (1811–1814). Der Titel dieses Buches trifft den Kern der Autobiografie: Sie ist zum Teil „Wahrheit“ (Geschichte) und zum Teil „Dichtung“ (Roman). Doch ist unklar, wo die „Wahrheit“ endet und wo die „Dichtung“ beginnt oder umgekehrt. Die Begebenheiten im Leben des Autobiografen sind wohl „wahr“, doch werden sie von seinem persönlichen Standpunkt aus erzählt, interpretiert und künstlerisch gestaltet. Besonders bei einem Erzähler wie Goethe ist das der Fall.

Goethe war einer der ersten, der sich mit der Autobiografie als Erzählform befasste. Beim Übersetzen von Benvenuto Cellinis Lebensgeschichte machte er sich Gedanken über diese Form und dachte sogar über die Notwendigkeit der Autobiografie nach. Wohl ist Goethe sich dessen bewusst, dass der Autobiograf oft aus eitlen Motiven schreibt. Von sich beispielsweise sagt er: „Ich habe niemals einen präsumptuoseren Menschen gekannt als mich selbst“ (Hamburger Ausgabe, Bd. 10, 530). Das aber darf den Autobiografen nicht von seiner Selbstdarstellung abhalten. Auch muss der Autobiograf nicht ein beispielhaftes Leben geführt haben, bevor er seine Autobiografie schreibt. Wichtig ist nur, „dass etwas geschehe, was dem andern nutzen, oder ihn freuen kann.“ (HA 10, 536). Auch über den Zeitpunkt der Abfassung einer Autobiografie machte Goethe sich Gedanken: erst im hohen Alter, wenn das Leben schon zu Ende geht? „Cellini sagt,“ so Goethe, „wenn ein Mann, der glaubt etwas geleistet und ein bedeutendes Leben geführt zu haben, im vierzigsten Jahr steht, so soll er seine Lebensgeschichte beginnen, die ereignisvolle Zeit seiner Jugend treulich aufzeichnen und in der Folge weiter fortfahren“ (HA 10, 531). Auch empfiehlt Goethe der Person, die daran denkt, mit der Zeit eine Autobiografie zu schreiben, ein Tagebuch zu führen, um die Erlebnisse in ihrer Frische für später aufzubewahren. Weiter meint Goethe, lieben Menschen „nur das Individuelle; daher die große Freude an Vorträgen, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen“ (HA 10, 536). Der einzelne Mensch hört am Ende für dieses Leben auf zu sein, wogegen die Umwelt, die Menschheitsgeschichte und das Allgemeine bleiben. So ist das Verlangen des Einzelnen, sich selbst mitzuteilen und für die Nachwelt als Individuum sozusagen lebendig zu bleiben, ganz natürlich. Deshalb ist für Goethe die Frage, „ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen“ (HA 10, 536). Lebenserinnerungen nicht schreiben zu wollen, hat nichts mit Demut zu tun.

Die wohlgemeinte und dem Anschein nach demütige Haltung ist zu verstehen, doch befindet sich derjenige, der sich weigert, sein Leben aufzuschreiben, im Irrtum: Selbst öffentliches Wirken in Schulen, Gemeinden und sonstigen Ämtern wird mit der Zeit vergessen, es sei denn, dass es schriftlich festgehalten wird. Die Autobiografie lebt fort und die Geschichte des Autobiografen verewigt so zu sagen sein Leben.

Mennoniten haben viel erlebt, besonders in den letzten einhundert Jahren. Sie sind Zeugen von politischen, militärischen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistlichen Wandlungen, Umwertungen und selbst Umwälzungen geworden. Sie vermögen das Bedürfnis zahlreicher Menschen zu befriedigen, Rat, Trost und Lebensweisheit in den Schriften ihrer Vorgänger zu suchen.

Es ist anzunehmen, dass Mennoniten in zunehmendem Maße Autobiografien oder Memoiren schreiben werden. Das gilt vor allem für die Mitglieder nordamerikanischer Gemeinden. Ihre allgemein gute Schulbildung, ihre Verdienste auf verschieden Gebieten der Berufswelt und ihr zunehmendes Wertgefühl in einer Welt, in der sie sich zu Hause fühlen, wird sie veranlassen, sich ihrer Gesellschaft mitzuteilen. Wohl waren sie nicht allzu lange her noch die „Stillen im Lande,“ doch heute sind sie es nicht mehr. Früher hielten Mennoniten „Demut“ und „Gelassenheit“ für die höchsten Ideale oder Merkmale der Nachfolge Jesu, was sie wohl vom Memoiren-Schreiben abhielt. Sie wollten nicht als „stolz“ oder „eitel“ gelten, oder gar als solche, die sich über andere erheben. Besonders von Frauen wurde erwartet, dass sie im Schatten ihrer Männer bleiben, was zum Teil wohl erklärt, dass auch heute noch weniger Frauen als Männer Memoiren schreiben. Theoretisch haben Mennoniten immer geglaubt, dass beide Geschlechter vor Gott gleich seien, doch in der Gesellschaft und im Gemeindeleben war bis vor kurzem – vor allem in konservativen Kreisen – noch der „Mann das Haupt der Frau.“ Die Frau konnte sich nicht wie der Mann nach ihren Fähigkeiten entfalten (Redekop, 103 ff; Funk Wiebe, 241–42).

Die Autobiografien, die im Folgenden Revue passieren werden, sind jeweils einmalig, und doch weisen sie Ähnlichkeiten miteinander auf. Ihre Autoren stammen nämlich aus ähnlichen Gemeinschaften, sozialen Verhältnissen und Denkmilieus. Diese Ähnlichkeiten und individuelle Unterschiede machen die Lektüre solcher Erinnerungsliteratur recht interessant, denn hier zeigt sich, wie das Zeitgeschehen die Schreiber zutiefst bewegte und formte. Auch ist interessant festzustellen, dass besonders die aus Preußen und Russland stammenden Mennoniten zum Schreiben von Autobiografien neigten. Könnte es nicht sein, dass ihre besonders leidvollen Erlebnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Autobiografie Entlastung und Befreiung fanden? In der befreienden Sprache können leidende Menschen Linderung und Heilung finden. So ist die Lektüre solcher Erzählungen nicht nur interessant, sondern wirkt auch heilsam auf den Leser. Doch haben diese Autobiografien auch eine andere Seite: Sie erzählen von den Erfolgen auf wirtschaftlichen, beruflichen und geistigen Gebieten. Sie zeigen, dass Mennoniten nicht mehr die Verfolgten und Fremdlinge sind, sondern schließlich in der Welt ihr Zuhause gefunden haben.

2. Mennonitische Autobiografien (in alphabetischer Folge)

(1) Siegfried Bartel, 1915 in Westpreußen geboren und aufgewachsen, war in seiner Heimat ein erfolgreicher Landwirt. Während des Zweiten Weltkrieges diente er freiwillig als dekorierter Soldat in der deutschen Wehrmacht (1939 nahm er am ersten Feldzug nach Polen teil). Da die preußischen Mennoniten das Prinzip der Wehrlosigkeit längst aufgegeben hatten, bereitete ihm sein Kriegsdienst keine Gewissensnot. Er kommandierte Angriffe auf den Feind, sah Soldaten an der Front sterben und befahl als Offizier die übliche Erschießung eines Partisanen. Am Weihnachtsabend 1942 hörte Bartel an der Front russische Soldaten Weihnachtslieder singen, was ihn überraschte und zum Nachdenken brachte. Nach dem Krieg verlor die Familie Bartel ihre Heimat und erhielt die Gelegenheit, nach Kanada auszuwandern, wo sie wieder zu Wohlstand kam. Bartels Kriegserlebnisse brachten ihn zu der Überzeugung, dass der „Krieg die Hölle sei.“ In Kanada wirkte er lange Zeit für das →Mennonite Central Committee und teilte in zahlreichen Vorträgen in Kirchen und Konferenzen seine Lebensgeschichte mit. Bis zuletzt war er als ein überzeugter Botschafter des Friedens bekannt. Living With Convictions. German Army Captain Turns to Cultivating Peace (Winnipeg 1994) ist seine 1994 erschienene Autobiografie.

(2) J. Lawrence →Burkholder (1917–2010): The Limits of Perfection. A Conversation, herausgegeben von Rodney J. Sawatzky und Scott Holland (Waterloo, Ontario, 1993). In einem Gespräch mit Sawatzky und Holland erzählt der umstrittene Theologe und ehemalige Präsident des Goshen College seine Lebensgeschichte und was ihn zu seinen theologischen und weltanschaulichen Einsichten geführt hat. Als junger Mann versah er einen diakonischen Dienst in den späten vierziger Jahren während der kommunistischen Revolution in China, er nahm an Märschen mit Martin Luther King teil und hielt sich, als die Berliner Mauer fiel, in der Deutschen Demokratischen Republik auf. Burkholder ließ sich in diese Situationen verwickeln, weil er davon überzeugt war, dass Mennoniten eine Verantwortung für Verbesserung und Frieden in der Welt hätten. H. S. →Bender, Guy →Hershberger und andere (Alt-) Mennoniten betonten mehr die Trennung von der Welt, Burkholder hatte dagegen das Streben nach moralischer Vollkommenheit (perfection) eines Christen aufgegeben, um der Welt nicht von aussen her, sondern mittendrin beizustehen und zu helfen. Er meinte, dass Christen, auch Mennoniten, eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber hätten und nicht frei von ethischen Kompromissen bleiben könnten, wenn sie sich für die Mitmenschen verantwortlich zeigten und unter ihnen aktiv seien. Der Gesellschaft zu dienen, im öffentlichen Leben wie in der Staatspolitik, sei wichtiger als nach Vollkommenheit in mennonitischen Gemeinden zu streben. Das Buch Limits of Perfection ist eine Zusammenfassung seiner 1958 abgeschlossenen Dissertation (The Problem of Social Responsibility from the Perspective of the Mennonite Church), die erst 1989 in einer mennonitischen Schriftenreihe veröffentlicht wurde, weil tonangebende Kollegen vorher starke Vorbehalte gegenüber Burkholders Theologie geäußert hatten. Im Nachhinein helfen diese Lebenserinnerungen, die theologische Diskussion unter nordamerikanischen Mennoniten besser als bisher zu verstehen.

(3) Abraham Dück (1921 – 2016): Das Leben zu bestehen, ist mehr als übers Feld zu gehen. Erinnerungen eines Russlanddeutschen (Neustadt a. d. Aisch 2005). Der erste Teil des Titels ist ein russisches Sprichwort. Der Autor fasst den Inhalt dieses großen Buches selbst so zusammen: „Alle Episoden des siebzigjährigen Sowjetstaates und seiner deutschen Minderheit hautnah miterlebt: die ‚Neue Ökonomische Politik'(…), Enteignung und Aussiedlung, Kollektivierung, die große Hungersnot von 1933, Neuansiedlung im wilden Nordkaukasus, Studium, Rotarmee, Trudarmee (Arbeitsarmee), über zehn Jahre lang Haft in dem Gulag der Kolyma. Mit Lebensstationen in allen Längen und Breiten des riesigen Sowjetstaates“ (609). Dück meint, dass das Buch „keine Forschung und auch keine Dokumentation“ sei (3), doch seine Kenntnisse der mennonitischen und russischen Geschichte sind enorm, und er weiß sie höchst interessant zu erzählen. 1989 kam er nach Deutschland und wurde bei Nürnberg ansässig. Er will „mit diesem Buch der jungen Generation, die jetzt manchmal mit ihrer Situation nicht fertig wird, zeigen, wie wir es meisterten“ (4). Diese Memoiren vermögen der nachfolgenden Generation der Aussiedler Orientierung zu vermitteln.

(4) Ted Friesen (geb. 1920): Memoirs. A Personal Autobiography“ (Altona, Manitoba, 2003). Friesen gehört zu den so genannten „Kanadiern“, den russländischen Mennoniten, die schon im 19. Jahrhundert in Kanada einwanderten. Seine Familie errichtete die erfolgreiche Buchdruckerei D. W. Friesen & Sons, Ltd. in Altona, Manitoba. Schon als Kind und junger Mann war er lernbegierig und aufgeschlossen, las viel und interessierte sich besonders für Geschichte, Literatur und Musik. Seine Liebe zur Geschichte seiner Vorfahren in Preußen und Russland führte ihn zum Selbststudium in Mennonitengeschichte und zu ehrenamtlicher Wirksamkeit in Organisationen wie dem →Mennonite Central Committee und den verschiedenen mennonitischen Geschichtsvereinen, in denen er als Vorsitzender, Schatzmeister und Schreiber jahrelang tätig war. In seinem Buch zeigt Friesen, dass er und seine Frau das Leben liebten, viele Reisen unternahmen und das viele Gute im Leben dankbar aus Gottes Hand empfingen. Zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos schmücken diese Memoiren.

(5) Johannes →Harder (1903–1987) erzählte seine Lebensgeschichte(n) episodisch in Aufbruch ohne Ende (Wuppertal und Zürich, 1992) ins Mikrofon, er starb plötzlich, noch ehe er seine Erinnerungen zu Ende bringen konnte. Erschienen sind seine Erinnerungen posthum. Er war durch viele seiner Romane und Schriften, z. B. In Wologdas weissen Wäldern (1934), Das Dorf an der Wolga (1937), Klim (1940) – schon während der dreißiger und vierziger Jahre bekannt geworden. Von Personen, die Harder innerlich geprägt haben, nennt er seinen Vater Bernhard Harder, Martin Niemöller, Karl →Barth und besonders die großen russischen Dichter Dostojewski, Tolstoi, Turgenew und Gogol. Christoph Blumhardt (1842–1919), dessen Sozialethik zum religiösen Sozialismus führte, machte einen tiefen Eindruck auf Harders Denken und Handeln. So berichtet er auf eindrucksvolle Weise auch von der Zeit, als er sich dem Religiösen Sozialismus auf dem →Rhönbruderhof der Neuhutterer zuwandte und sich zunehmend von den Mennoniten während des →Dritten Reichs entfernte. Als Soldat im Zweiten Weltkrieg kam er bis Russland, wo er mit der Orthodoxen Geistlichkeit in Verbindung trat. Später schrieb er die Kleine Geschichte der Orthodoxen Kirche (1961). Harder stand Karl Barth und der „Bekennenden Kirche“ nahe, für die er einige Jahre tätig war, und wurde durch die „Ostermärsche“ für den Frieden in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die er als Redner begleitete, bekannt. „Jesus von Nazareth“ und die radikalen Täufer des sechzehnten Jahrhunderts waren bis zuletzt seine leuchtenden Vorbilder. Er hat sie einem zum linken politischen Spektrum gehörenden Publikum oft zu Gehör gebracht. Er stand nicht nur mit Literaten und Philosophen des Ostblocks im Gespräch, er warb auch für die Versöhnung mit Polen und redigierte vorübergehend die Deutsch-Polnischen Hefte. Er unterhielt Kontakte zur deutschen Sozialdemokratie, vor allem zu Johannes Rau, dem späteren Bundespräsidenten. Schließlich fand er sogar den Mut, sich auf Gespräche mit der Außerparlamentarischen Opposition einzulassen und die Grabrede für die Terroristin Elisabeth von Dyck (Enkenbach/Pfalz) zu halten. „Aufbruch ohne Ende“ ist ein treffender Titel für die Lebenserinnerungen eines unruhig suchenden Geistes, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Hochschullehrer für Sozialwissenschaften an die Pädagogische Hochschule in Wuppertal berufen wurde, wo er an der Erziehung der Jugend auf besonders wirksame Weise mitwirken konnte, sich aktiv an der Arbeit der evangelischen Studentengemeinden in Deutschland beteiligte und schließlich nach seiner Pensionierung als Ältester in den Dienst der Mennonitengemeinde in Frankfurt am Main trat. Als Einzelgänger hat er einen Weg gefunden, das Friedenszeugnis der Täufer im politischen und kirchlichen Raum zu vertreten.

(6) Jacob H. Janzen (1878–1950): Lifting the Veil. Mennonite Life in Russia Before the Revolution (Kitchener, Ont. 1998); Aus meinem Leben: Erinnerungen von J. H. Janzen erschien schon 1929 und wurde in Der Bote abgedruckt). Walter Klaassen übersetzte diese Erinnerungen ins Englische (redigiert wurden sie von Leonard Friesen). Janzen war ein beliebter und einflussreicher, gleichwohl oft kritischer Lehrer, Schriftsteller, Prediger und Ältester, zunächst in Russland und später in Kanada. In seiner Autobiografie rügt er die „Jugendsünden“ seiner Zeit und warnt seine Zeitgenossen wie ein alttestamentlicher Prophet vor dem bevorstehenden Gericht Gottes. Auch scheute er sich nicht, die Mennoniten wegen mancher Missstände zu kritisieren, u. a. monierte er das fast heilige „Privilegium“ der Kriegsdienstverweigerung und das Recht, einen fast sinnlosen Ersatzdienst in der Forstei (Waldarbeit) leisten zu dürfen. Janzen meinte, dass es sinnvoller sei, mit andern Bürgern an der Front zu stehen und Wunden zu heilen, statt zu Hause zu bleiben und andere für das Vaterland sterben zu lassen. Im Ersten Weltkrieg gab es schon viele, die als Sanitäter an der Front und in Lazaretten dienten, was Janzen begrüßte. Er veröffentlichte zahlreiche belehrende Schriften, auch Gedichte, die gerne gelesen wurden. Sie werden nun in einen autobiografischen Zusammenhang gestellt und beginnen, noch einmal zu sprechen.

(7) Peter Janzen (geb. 1915): Meine Erinnerungen. Lebensbericht eines Russlanddeutschen, herausgegeben von Paul Gert von Beckerath (Münster, 2002). Janzen gehört zu den Spätaussiedlern in Deutschland, die während der Sowjetzeit viel gelitten hatten und sich auch in der neuen Heimat nicht ganz zu Hause fühlen. Im Vorwort schreibt der Herausgeber: „Drei Dinge haben Peter Janzen (…) gefestigt: die tief religiöse mennonitische Grundhaltung, die ihm von seinem Elternhaus vermittelt worden ist, die Verwurzelung in seiner Familie und die Liebe zur Musik. Damit hat er durchgestanden, was das Leben ihm aufgegeben hat: ‚Ich schreibe, um mich einer Selbstprüfung zu unterziehen.' Janzens Akt der Geschichtsbewältigung und der Selbstbefreiung scheint mir eine hohe menschliche Leistung (zu sein) – beispielhaft auch für die Nachwelt.“ Janzens Frau war in Russland gestorben, sie war getauftes Mitglied einer Mennonitengemeinde. Kurz vor ihrem Tode sagte sie: „Es würde mich sehr freuen, lieber Peter, dass du, sofern du tatsächlich nach Deutschland kommen solltest, dort eine Mennonitengemeinde aufsuchst und dich taufen lässt, damit wir nach dem Tod zusammen sein können.“ 1996 wurde der Wunsch seiner Frau erfüllt: Janzen wurde in der Mennonitengemeinde Krefeld getauft und dort als Mitglied aufgenommen. Er musste sich in einer ganz anderen Frömmigkeitswelt zurecht finden.

(8) Rhoda Janzen, die junge amerikanische Akademikerin und Dichterin, hat in ihrer Autobiografie Mennonite in a Little Black Dress. A Memoir of Going Home (2010) eine seltsame Lebensgeschichte vorgestellt. Als Tochter einer prominenten mennonitischen Familie in Kalifornien verließ sie schon in jungen Jahren ihr Zuhause, heiratete einen Atheisten, den sie teilweise finanziell unterstützen musste. Nach fünfzehn Ehejahren, wurde sie von ihrem Mann verlassen, wie sie schreibt, „for a guy named Bob he met on gay.com“. Zwei Wochen später hatte Rhoda einen Autounfall, wobei ihr Schlüsselbein und ihre Beine derart zerschlagen wurden, dass sie lange im Krankenhaus liegen musste. Am Ende mit allem und mit sich selbst kam die „verlorene Tochter“ zu ihren Eltern nach Hause und zur mennonitischen Gemeinschaft in Kalifornien zurück. Hier findet sie ihre einstige Welt wieder. All dies erzählt Rhoda ohne Vorbehalte, Befangenheit und mit Humor. Die Mutter scheint die wahre Heldin des Buches zu sein. Sie nimmt die Tochter liebevoll auf, handelt sachlich, ohne sie zu beschuldigen, und rät ihr sogar, ihren Vetter zu heiraten, der wenigstens einen Traktor besitzt. Dreizehn Wochen lang stand das Buch in der New York Times auf der Bestsellerliste. Rhoda Janzen lehrt Englisch in einem College im US-Staat Michigan.

(9) Waldemar Janzen (geb. 1934), der beliebte Alttestamentler am Canadian Mennonite Bible College in Winnipeg, fasst den Inhalt seiner Autobiografie schon im Titel zusammen: Growing up in Turbulent Times. Memoirs of Soviet Oppression, Refugy Life in Germany, and Immigrant Adjustment in Canada“ (Winnipeg, 2007). Als Janzen mit seiner Mutter 1948 nach Kanada einwanderte, durfte er seine Schulausbildung, die er schon in Deutschland begonnen hatte, sofort fortsetzen. Vielen jungen Immigranten war das damals nicht möglich. Er war ein begabter und ausgezeichneter Schüler, der perfekt Deutsch und bald auch fließend Englisch sprach. Sein Vater, der in Russland Lehrer war, wurde vom Geheimdienst NKWD verhaftet, doch er konnte seinem Sohn selbst aus der Verbannung noch Briefe schreiben und ihn zum Lernen anspornen. Schon als junger Mann führte Janzen ein „braunes Büchlein“ und später ein „schwarzes“, worin er seine Gefühle und Erlebnisse eintrug. Das verleiht den Erinnerungen Objektivität, Sachlichkeit und Wirklichkeitsnähe. In Kanada hielt er sich zunächst mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten über Wasser, auch als Mitarbeiter in einer Anstalt für Geisteskranke. Doch von jung auf fühlte er sich „vom Heiligen angezogen“, und das führte ihn zur Theologie und auf die biblisch-akademische Laufbahn.

(10) Hans Kasdorf (1928–2011), der bekannte Bibellehrer, Evangelist und Missionswissenschaftler nannte seine Memoiren Design of My Journey. An Autobiography (Fresno, CA, 2004), überzeugt davon, dass Gott sein Leben geplant hatte und leitete. Klaus W. Müller (Freie Theologische Akademie in Giessen) sah in Kasdorf, „was Gott durch einen Menschen machen kann, der sich ihm ganz zur Verfügung stellt.“ In Sibirien geboren und 1930 über Deutschland nach Brasilien ausgewandert, fand Kasdorf in der brasilianischen Wildnis eine neue Heimat. Mit amerikanischer Hilfe wurde es ihm möglich, in Kanada und Amerika an Bibelschulen und Universitäten zu studieren. Sein akademischer Erfolg in „säkularen“ Anstalten wurde ihm zur großen Versuchung, den biblisch-theologischen Weg zu verlassen und eine „weltliche“ Laufbahn einzuschlagen. Besonders seine Liebe zur deutschen Literatur und Germanistik wurde ihm fast zum Verhängnis. Er nennt die etwa zwölf Jahre als Student und Lehrer an Universitäten einen „detour [Umweg] in academia.“ Die Memoiren schließen viele von Kasdorfs reflektierenden Gedichten mit ein und sind von seinem tiefen Glauben und Sendungsbewusstsein durchdrungen. Auch dies ist eine Autobiografie, in der sich das Schicksal mennonitischer Migration widerspiegelt.

(11) Der bekannte nordamerikanische Historiker und Mitarbeiter des →Mennonite Central Committees (MCC) Robert S. Kreider (geb. 1919) behauptet zu Recht, dass Autobiografie nicht Geschichte (history), sondern Ergänzung („accessory“) zur Geschichte sei. Als Historiker schrieb er seine Lebenserinnerungen, My Early Years (Kitchener 2002), als der am „Rande“ stehende „Zuschauer“ („by-stander“) des Weltgeschehens. Doch in der Autobiografie eines Historikers wie Kreider kann auch der Historiker so manches „Neue“ finden. Höchst interessant und aufschlussreich ist Kreiders Geschichte seiner schweizerischen Herkunft und der Pionierjahre seiner Vorfahren in Nordamerika. Von Bedeutung, besonders für die Geschichte des MCC, ist Kreiders Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als er die Flüchtlinge im zerbombten Berlin mit deren Wohltäter Hans Kroeker (Sohn des bekannten Jakob Kroeker aus Wernigerode) entdeckte und ihnen Hilfe bringen konnte. In seiner Reportage ist Kreider sachlich, fair Personen und Anschauungen gegenüber, und doch persönlich und wohlwollend. Dieses Buch von mehr als 600 Seiten ist vor allem wegen des Berichts über die frühe Nachkriegszeit aufschlussreich, in der das MCC in Berlin wirkte und zahlreichen Flüchtlingen aus dem Osten half, eine neue Heimat zu finden.

(12) Jacob A. Loewen (1922–2006) war auch einer der „unruhigen“ Geister, die der mennonitischen Gemeinschaft viel Gutes getan haben, obwohl sie es nicht immer schätzte. In Educating Tiger. My Spiritual and Intellectual Journey (Hillsboro, Kansas, 2000) beschreibt der Anthropologe, Missionar, Theologe und Spracherzieher, wie er „erzogen“ wurde, sich selbst, das Christentum und das Missionsfeld zu verstehen. Er lernte und bestand darauf, dass die Missionare sich den verschiedenen Kulturen anpassen müssten, um erfolgreich sein zu können. In zahlreichen erlebten Geschichten beschreibt er seine „geistige und intellektuelle Lebensreise“, die unter der führenden Schicht der Mennoniten-Brüdergemeinden nur unter Vorbehalt akzeptiert wurde, wie seine Annahme beispielsweise, dass auch in nicht-christlichen Religionen Gott gedient wird. Gemeinden in British Columbia wurden davor gewarnt, Loewen zu Vorträgen einzuladen. Sein Sohn verließ die Mennoniten-Brüdergemeinde, weil sie das angestammte Friedenszeugnis aufgegeben hatte. Darauf begann Loewen, Menno Simons intensiv zu studieren. Er las Mennos vollständige Werke sieben Mal in der deutschen Ausgabe und zwei Mal in der englischen Version. Sein Buch Only the Sword of the Spirit (1997) behandelt das Thema der Gewaltlosigkeit, wie es von Menno Simons erörtert worden war.

(13) Harry →Loewen (1930–2015) wurde 1978 der Mitbegründer und Inhaber des ersten Lehrstuhls für Mennonite Studies an der University of Winnipeg. Seine Autobiografie Between Worlds. Reflections of a Soviet-born Canadian Mennonite (Kitchener, Ontario, 2006) erzählt von Episoden seines Lebens: von den Anfängen in der Sowjetunion bis zu seiner Emeritierung 2006 und vom Ruhestand. 1937 wurden sein Vater und Großvater von der NKWD erschossen, was sein Leben zum Teil prägte. Seine Mutter und Großmutter lehrten ihn beten und an Gott glauben, doch von Mennoniten erfuhr er erst etwas nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, als er mit Mitarbeitern des MCC bekannt wurde. In Kanada fand er eine neue Heimat, wo er die Gelegenheit hatte, an Bibelschulen und Universitäten zu studieren. Als Professor für Germanistik und Geschichte nahm er sich auch Zeit, in Gemeinden mit Predigten und Vorträgen zu wirken. Ihm ging es besonders um das täuferische Erbe der Mennoniten, das er mit Bedauern rapide schwinden sah. Nach seiner Emeritierung setzte er seine schriftstellerische Arbeit fort, veröffentlichte noch mehrere Bücher und reiste mit Vorträgen über Literatur, Theologie, Reformations- und Mennonitengeschichte weit umher. Die deutsche Literatur ist immer noch seine erste Liebe. (Dieser Artikel wurde kurz vor seinem Tod 2015 geschrieben)

(14) Die Lebensgeschichte Gerhard J. Schartners (1898–1990), der in Russland geboren und die schwere Zeit der Kommunistischen Revolution, den Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg und die Immigration nach Paraguay hautnah miterlebt hatte, hat auch für die Geschichte der Mennoniten allgemein einen großen Wert. Lehrer Schartner berichtet genau, mit Daten und einzelnen Begebenheiten, von den historischen Anfängen der Mennoniten in Russland und verfolgt die Geschichte bis zur Auswanderung nach Paraguay im Jahr 1947. Anhand eines Tagebuchs, das er ab und zu über viele Jahre führen konnte, schreibt er seine Geschichte in einwandfreiem Hochdeutsch. Was einige Leser überraschen mag, ist die Mitteilung, dass die Russlandflüchtlinge in Deutschland schon 1930 „rassisch“ untersucht wurden. Schartner kommentiert das Ergebnis dieser Untersuchungen, wohl mit Genugtuung, dass die Emigranten fast alle „hundertprozentig in ihren Adern deutsch-russisches Blut trugen.“ Schartners Memoiren führen nicht nur in die Geschichte der Mennoniten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein, sondern zeigen auch, welche Haltung der Autor und die meisten seiner Volks- und Glaubengenossen zu Sowjet-Russland und zu Deutschland einnahmen: Dankbarkeit gegenüber Deutschland für ihre Befreiung von den Sowjets.

(15) Katie Funk Wiebe (geb. 1924) hat zwei Autobiografien verfasst. In der ersten, The Storekeeper's Daughter (1997), erzählt sie ihre Geschichte als junges Mädchen in Saskatchewan, wo ihre Eltern Jacob und Anna Funk Mitglieder in der konservativen Mennoniten Brüdergemeinde waren und wo sie 1934 in Saskatoon (Saskatchewan) getauft wurde. Die zweite Autobiografie, You Never Gave Me a Name. One Mennonite Woman's Story (2009), beschreibt den Werdegang, wie Katie zu einer der ersten mennonitischen Feministinen wurde. Als sie und ihr Mann Walter Wiebe in den 1940ger Jahren im Mennonite Brethren Bibel College in Winnipeg studierten, arbeitete ihr Mann nebenher als Schrifleiter mennonitischer Publikationen, und sie war seine Assistentin. 1962 zog das Ehepaar nach Kansas, wo beide am Tabor College studierten und weiter schriftstellerisch tätig waren. Kurz danach starb ihr Mann, und die junge Witwe musste nun allein für ihre vier Kinder sorgen und ihrem Studium nachgehen. Am Tabor College erhielt sie eine Lehrerstelle in der Englischen Abteilung und nebenbei schrieb sie Aufsätze für Zeitschriften wie dem Christian Leader. 1970 fing Katie an, Bücher zu schreiben, besonders für Frauen, die sich oft übersehen fühlten, weil sie als Frauen nicht zur führenden Schicht in der Gesellschaft gehörten. Ihre Bücher sind zum Teil autobiografische Erzählungen, in denen die Hauptanliegen der Autorin mit dem eigenen Leben verbunden werden. Auch in ihrem vorgeschrittenen Alter wird Katie Funk Wiebe oft eingeladen, in Kirchen, Schulen und Frauengruppen Vorträge zu halten. Heute gehört sie zu den führenden Frauen in mennonitischen Kreisen und darüber hinaus.

(16) Der kanadische Schriftsteller Rudy Wiebe (geb. 1934) hat in seinen Memoiren Of This Earth. A Mennonite Boyhood in the Boreal Forest (Toronto, 2006) die ersten dreizehn Jahre seines Lebens im Norden von Saskatchewan beschrieben. Seine Eltern kamen nach den politischen Umwälzungen aus Russland, um in Kanada ein neues Zuhause zu finden. Die neue Heimat war eine trostlose Wildnis, die seine Eltern urbar machten und in der sie ärmlich ihr Dasein fristeten. Zu Hause sprach die Familie das aus Preußen mitgebrachte Plattdeutsch. Erst als Rudy Wiebe anfing, zur Schule zu gehen, lernte er Englisch. Nie hätte er sich denken können, dass er je einer der bedeutendsten Schriftsteller Kanadas werden und für sein literarisches Werk den Governor General's Award, den bedeutendsten Literaturpreis Kanadas, erhalten würde. Einige seiner Bücher sind im Eichborn Verlag in Deutschland erschienen, wie Land jenseits der Stimmen (2001), Wie Pappeln im Wind (2004) und Von dieser Erde (2010). In den Memoiren sieht und fühlt der Leser, was der zukünftige Autor schon als Kind ahnte, auch dass die Weite des wilden Landes zum Gegenstand seiner Werke werden würde. Er schreibt: „Ich musste mich nur in diesen atmenden Wind stemmen, um ein Gefühl für dieses Land zu entwickeln: ein Land zu unermesslich, um es zu überblicken, dem bloßen Auge unergründbar – vielleicht aber ertastbar durch Worte, mit größter Sorgfalt aneinandergereihte Worte.“

(17) Maria Winter-Loewen hat mit ihrer Autobiografie Höhen und Tiefen. Eine deutsche Lebensgeschichte aus Süd-Russland, Band 1 (Steinbach, Manitoba, 1973) der Nachwelt ein wichtiges Dokument hinterlassen, besonders im ersten Teil, wo sie die Verhältnisse der Mennoniten bis zur ersten Zeit unter den Sowjets beschreibt. Anhand eines Tagebuches, das sie schon als junges Mädchen führt und „meine alten vergilbten Aufzeichnungen“ nennt, schreibt sie buchstäblich „Dichtung und Wahrheit.“ Als begabte Dichterin webt sie viele ihrer Verse in die Erzählung ein, die dem Tatsachenbericht Gefühl und Romantik verleihen. Sie kannte und liebte die russischen Schriftsteller wie Tolstoi und Puschkin und zitiert deutsche Dichter wie Schiller. Maria und ihre Eltern gehörten zu jenen, die in den zwanziger Jahren, als viele ihrer Glaubensgeschwister nach Kanada gingen, nicht auswandern wollten. Obwohl sie früher wohlhabende Dampfmühlenbesitzer waren, versuchten sie sich zu „proletarisieren“, um „in den Reihen der Arbeiterklasse einen Platz“ zu finden. Allerdings gelang ihnen das nicht. In den Augen der Arbeiterschaft in Halbstadt blieben sie, was sie früher waren, nämlich „Unternehmer“ und „Ausbeuter gedungener Arbeitskraft.“ So sahen sie sich am Ende gezwungen, nach Kanada auszuwandern. Mit dieser Autobiografie wird deutlich, wie unterschiedlich die Mennoniten in der Ukraine auf die umwälzenden Ereignisse in Russland reagieren konnten.

(18) Anna D. Sudermanns (1893–1982) Lebenserinnerungen“ (unveröffentlicht, Winnipeg, 1970) gehören zu den bedeutenden Autobiografien der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht nur berichtet Sudermann eingehend und wahrheitsgetreu über den Untergang der mennonitischen Welt in Russland, sondern liefert auch dem Historiker wertvolles Geschichtsmaterial. Als Tochter einer wohlhabenden Familie gelang es ihr, sich eine gute Bildung anzueignen, und als Lehrerin in Chortiza, Ukraine, übte sie einen positiven kulturellen Einfluss auf ihre Umgebung aus. Als die Sowjets an die Macht kamen und in den Schulen nach neuen Regeln gelehrt werden musste, legte sie ihr Lehramt nieder, nachdem sie öfters verhaftet und politisch verhört worden war. Während der deutschen Besatzung 1941–1943 erfuhren die Mennoniten ihre ersehnte Befreiung vom Kommunismus, doch Sudermann sah auch, was die deutsche Wehrmacht den Juden antat. Einige ihrer jüdischen Freunde wurden erschossen. In den Memoiren drückt sie ihre Schuld und Reue aus, denn sie und andere Mennoniten hätten protestieren sollen, haben es aber nicht getan. So ist ihre Autobiografie, wie sie schreibt, auch als eine Art „Beichte“ zu lesen.

(19) Benjamin H. →Unruh (1881–1959), der vielen Mennoniten als „Ohm Benjamin“ bekannt wurde, hat keine Autobiografie in Buchform hinterlassen – abgesehen von seiner 1966 verfassten Fügung und Führung im mennonitischen Welthilfswerk 1920–1933. Zu seinem 70. Geburtstag am 17. September 1951 schickte Unruh der Zeitschrift Der Bote auf Bitten des Redakteurs einige Aufzeichnungen über sein Leben: von der Herkunft der Unruhs (und der russländischen Mennoniten) in den Niederlanden und Deutschland bis etwa zum Jahr 1917, von seinem Dienst an den mennonitischen „Brüdern“. Er erwähnt besonders sein Studium in der Schweiz, seine Lehrtätigkeit in den mennonitischen Kolonien und die Auszeichnungen, die er für seine Verdienste erhielt. Er betont, dass er die Anerkennungen nicht nur für sich, sondern stets auch für seine Bruderschaft und Mitarbeiter angenommen habe. Über die Zeit unter Adolf Hitler, die er in Deutschland verbrachte, schreibt er: „Was meine Tätigkeit seit 1933 betrifft, so bedarf sie insbesondere der historisch sauberen Darstellung. Sie ist geplant und im Konzept weitgehend gediehen. Diese Darstellung wird ins Licht stellen, dass ich meiner Kirche immer die ganze Treue gehalten habe, wie auch meinen Freunden und Mitarbeitern“ (Der Bote, 26. Sept. 1951). Zu dieser eigenen Darstellung der Zeit nach 1933 ist es leider nicht gekommen. Aufschluss über das komplizierte Verhältnis Unruhs zu den Machthabern im →Dritten Reich bietet aber Peter Letkemanns Nachwort zu Heinrich B. Unruhs Biografie seines Vaters Führung und Fügungen (2009).

Autobiografien werden in der Regel erst im späteren Alter eines Menschen verfasst. Der ältere Autor hat nicht nur viel erlebt, sondern auch seiner Familie, der Gemeinschaft oder der Gesellschaft wichtige Einsichten mitzuteilen. Ihm geht es um die „Wahrheit“ seiner Mitteilungen, nicht so sehr um den Eindruck, den seine Geschichte auf die Leser ausüben wird. So verfügen die Memoiren in der Regel über einen hohen Wahrheitsgrad, als historische Quellen sind sie allerdings nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Auch scheinen die meisten Verfasser von einem gewissen Sendungsbewusstsein erfüllt zu sein. Sie möchten den Lesern ihre Erlebnisse nahe legen, nicht nur weil sie diese als bedeutsam empfinden, sondern weil die Erinnerung daran Werte enthält, die den Lesern nützlich sein könnten. Die meisten Memoirenschreiber unter den Mennoniten erzählen von ihren Erlebnissen in der Sowjetunion und von der Freiheit, die sie erfuhren, nachdem sie „das Land der Schrecken“ verlassen hatten. Andere berichten von ihrem Einsatz in der →Mission, im Bildungswesen oder in karitativen Organisationen wie dem →Mennonite Central Committee. Wieder andere wollen nicht, dass sie bei ihren Kindern und Enkeln in Vergessenheit geraten, im Gegenteil, das erzählte Leben soll als ein positives Beispiel für deren eigenes Leben gelesen werden. So dienen diese Memoiren einem doppelten Zweck: Sie sind eine willkommene Gelegenheit für einige, sich Rechenschaft über das eigene Leben in aller Öffentlichkeit abzulegen, und sie verfolgen zugleich die Absicht, Mitmenschen und Nachgeborenen wertvolle und bedenkenswerte Erfahrungen mitzuteilen.

3. Zusätzliche Memoiren (Auswahl)

Berta Bachman, Memories of Kazakhstan. A report on the Life Experiences of a German Woman in Russia, übersetzt von Edgar C. Duin (Lincoln, NE, 1983). - Helene Berg, Unsere Flucht. Erinnerungen (Thomashof, Baden, 1947). - Peter (Isaak) Derksen, Es wurde wieder ruhig. Die Lebensgeschichte eines mennonitischen Predigers aus der Sowjetunion (Winnipeg, Manitoba, 1989). - Cornelius A. DeFehr, Erinnerungen aus meinem Leben (Winnipeg, Manitoba, 1976). - Helene Dueck, Durch Trübsal und Not (Winnipeg, Manitoba, 1995). - Heinrich Dürksen, Daß du nicht vergessest der Geschichten – Lebenserinnerungen, Filadelfia, Paraguay, 1990. - Anna Reimer Dyck, From the Caucasus to Canada, übersetzt und herausgegeben von Peter J. Klassen (Hillsboro, KS, 1979). - Henry Dyck, This is my Journey. As told to and narrated by Waldemar Janzen (Winnipeg, Manitoba, 2008). - Norman H. Fehr, Homeward Bound and Family Bound (1994). - Hans-Jürgen Goertz, Umwege zwischen Kanzel und Katheder. Autobiographische Fragmente, Göttingen 2018.- Gerhard →Hein, Ein Rußlanddeutscher erlebt Ost und West, unveröffentlicht (im Familienbesitz, Mennonitische Forschungsstelle, Weierhof), engl. Fassung: Wilfried Hein, A Witness in Times of War and Peace. The Story of Gerhard Hein: A Mennonite Pastor Who served in the Wehrmacht During World War II, Friesen Presse, Victoria, B.C., Kanada 2015.- Peter Jansen, The Record of a Busy Life. An Autobiography (1921), wohl die erste Autobiografie einer russlanddeutschen Mennonitin in Englisch. (Peter war der Sohn von Cornelius Jansen (1822–1894), dem Förderer der ersten Auswanderung nach Amerika 1873.) – Abraham J. Loewen, Immer weiter nach Osten. Südrussland, China, Kanada. Ein siebzehnjähriger mennonitischer Leidensweg. Ein Tatsachenbericht (Winnipeg, Manitoba, 1981). - Gerhard Lohrenz, Mia oder über den Amur in die Freiheit. Die Lebensgeschichte einer mennonitischen Frau, Maria Defehr, auf Grund ihrer Aufzeichnungen erzählt (Winnipeg, Manitoba, 1981). - Jacob A. Neufeld (geb. 1895), Tiefenwege. Erfahrungen und Erlebnisse von Russland-Mennoniten in zwei Jahrzehnten bis 1949 (Virgil, Ont., 1949), wichtiges Buch über die Flucht aus der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. - Henry Poettcker, A President's Journey: The Memoirs of Henry Poettcker (Winnipeg 2009). - Anita Priess, Exiled to Siberia / Verbannung nach Sibirien (Steinbach, Manitoba, 1972). - David G. Rempel mit Cornelia Rempel Carlson, A Mennonite Family in Tsarist Russia and the Soviet Union, 1789–1923 (Toronto, Buffalo, London 2002). Rempel war der erste promovierte mennonitische Historiker in Nordamerika. - Johannes Rempel, Mit Gott über die Mauer springen. Vom mennonitischen Bauernjungen am Ural zum Kieler Pastor, hg. von Hans-Joachim Ramm, Husum 2013. - Wilhelmine Siefkes, Erinnerungen, 2. Aufl., Leer 1977. - Lee Snyder, At Powerline and Diamond Hill: Unexpected Intersections of Life and Work (Telford, Pa., 2010). - Leonhard Sudermann (1821–1900), Eine Deputationsreise von Russland nach Amerika vor vierundzwanzig Jahren (Elkhart, Ind., 1897). Sudermann und Cornelius Jansen führten die ersten russländischen Mennoniten nach Amerika (1873). - Susanna Toews, Trek to Freedom: The Escape of two Sisters from South Russia During World War II, übersetzt von Helen Megli (Winkler, Manitoba, 1976).

Nachträge:

Bibliografie (Auswahl)

Art. Autobiographie, in: dtv Lexikon 2, 37–38. - Benvenuto Cellini [1500–1571], Autobiography, übersetzt aus dem Italienischen von John A. Symonds (The World's Great Classics, New York o. J.). - Mary Cisar, Mennonite Women's Autobiography: An Interdisciplinary Feminist Approach, in: Journal of Mennonite Studies 14, 1996, 142–52. - Katie Funk Wiebe, The Mennonite Woman in Mennonite Fiction, in: Harry Loewen and Al Reimer (Hg.), Visions and Realities. Essays, Poems, and Fiction Dealing With Mennonite Issues, Winnipeg: 1985, 231–242. - Goethes Werke, Hamburger Ausgabe (HA), Bände 5 (1972), 9 (1974), 10 (1976), 11 (1974). - Calvin Redekop, Mennonite Society, Baltimore und London 1989). - Heinrich B. Unruh, Fügung und Führungen. Benjamin Heinrich Unruh 1881–1959. Ein Leben im Geiste christlicher Humanität, mit einem Nachwort von Peter Letkemann, Detmold, 2009.

Harry Loewen

 
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