Ekklesiologie (mennonitisches Gemeindeverständnis)

Ekklesiologie ist der aus dem Griechischen entlehnte Begriff für „Lehre von der Kirche“. In dieser Lehre wird das Augenmerk auf das Selbstverständnis der Kirche gelegt, auch auf ihre Praktiken und Ordnungen. Ein Bericht über die Ekklesiologie, wie sie unter Mennoniten entwickelt wurde, muss mit dem Aufbruch des Täufertums um 1525 in und um Zürich einsetzen (→Täufer). Eine Variante dieser täuferischen Bewegung entstand in den Niederlanden während der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts. Hier kam es zur Herausbildung einer mennonitischen Ekklesiologie – ungefähr um 1536, nachdem Menno →Simons seinen Priesterstand in der katholischen Kirche verlassen und sich den Täufern angeschlossen hatte, die in seiner westfriesischen Umgebung aufgetreten waren. In Anbetracht der engen Verbindung zwischen der täuferischen Bewegung und den Anfängen der Mennonitengemeinden im niederdeutschen Raum wird gelegentlich von der „täuferisch-mennonitischen“ Tradition gesprochen.

Es ist nicht einfach, eine Lehre von der Kirche im Täufertum genau herauszuarbeiten. Die neuere →Täuferforschung hat sich seit einiger Zeit von der traditionellen Vorstellung des monogenetischen Ursprungs des Täufertums verabschiedet und die Auffassung vertreten, dass das Täufertum sich in einer Vielfalt religiöser und sozialer Kontexte mit unterschiedlichen Perspektiven entwickelt hat. So sehr sich diese Anschauung durchgesetzt hat, wird dennoch daran festgehalten, dass es die Lehre von der Kirche war, die das Täufertum und folglich auch die täuferisch-mennonitische Tradition als eine eigene Reformbewegung kennzeichnete. Der Kirchenhistoriker Franklin H. →Littell beispielsweise sah in der „Entdeckung von Leben und Sittlichkeit der Urgemeinde das beherrschende Thema im Denken der Täufer“ (Franklin H. Littell, Das Selbstverständnis der Täufer, 122; vgl. John Howard Yoder, The Priestly Kingdom, 123–134). Ähnlich behauptete Arnold Snyder, dass ein gemeinsamer Ton in der Fülle der täuferischen Stimmen zu hören sei, der das Thema der Ekklesiologie anschlägt: „The doctrine of the church was central to Anabaptist theology. The church was to be the visible Body of Christ“ (Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology, 155) – noch spezifischer: „the biblical model of Christian community was the congregation of yielded, regenerated, faithful, baptized, committed and obedient believers – a community of saints“ (ebd., 159). Eine solche Beobachtung schließt allerdings nicht aus, dass die täuferische Ekklesiologie alles andere als homogen war. Sie konnte recht unterschiedliche Züge der Kirche hervorheben und zur Geltung bringen: bei den Zürcher Täufern anders als bei Hans →Hut in Mittel- und Oberdeutschland, bei Balthasar →Hubmaier anders als bei den Hutterern (→Hutterische Bruderhöfe), bei Melchior →Hoffman und Menno Simons anders als bei den Täufern in →Münster.

1. Biblische Vorstellungen von der Kirche

Die täuferisch-mennonitische Ekklesiologie wurde vor allem an der Heiligen Schrift orientiert. Dieser Ansatz spiegelt sich beispielsweise in den Conrad-Grebel-Lectures wider, die der mennonitische Historiker und Kirchenführer Harold S. →Bender 1960 unter dem Titel These Are My People: The New Testament Church veröffentlichte. Aus den zahlreichen biblischen Vorstellungen von der Kirche wählte Bender drei Bilder aus, die für die mennonitische Ekklesiologie von zentraler Bedeutung sind: das Volk Gottes, der Leib Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes (Harold S. Bender, These Are My People, 1–66).

Die Vorstellung der Kirche als Volk Gottes verbindet das Volk des Alten Testaments mit der Kirche des Neuen Testaments. Das alttestamentliche Gottesvolk hatte seinen Ursprung in der Verheißung, mit der Gott Abraham ansprach: „Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (1. Mos., 12, 2 f.). Das Angebot Gottes, mit Abraham einen Bund zu schließen, und Abrahams Antwort legten den Keim für die Geburt eines „heiligen Volkes“, das schließlich die Kirche hervorbringen würde, das neue Gottesvolk, von dem der Apostel Petrus schreibt: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk“ (1. Petr. 2, 9). Täufer und →Mennoniten legten großen Wert auf ihre Berufung, Volk Gottes zu sein.

Die Vorstellung der Kirche als Leib Christi verbindet die Kirche mit Jesus Christus, dessen Leben, Tod und Auferstehung die Absicht Gottes mit dem Volk des neuen Bundes verkörpern. Nachdem Jesus von Johannes dem Täufer im Jordan getauft worden war, sammelte er eine Gruppe von Jüngern um sich und lud sie ein, sich seinen Lehren anzuvertrauen, die das Reich Gottes ankündigen, und ihm nachzufolgen. Damit legte er den Keim für seine Kirche, die als eine Verlängerung seines Lebens und seines Willens zu verstehen ist. Jesus verdeutlichte seine Absichten, wenn er sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“ (Matth. 16, 18). Er stellte sich die Kirche als das Werkzeug vor, das die Lehren und Werke des Reiches Gottes aufnimmt und verwirklicht. Im 1. Korintherbrief verkündete Paulus Jesus Christus als den „Grund“ der Kirche“ (1. Kor. 3, 11). Dieser Text wurde zum Losungswort und Motto für Menno →Simons. In demselben Brief wurde die Kirche auch als „Leib Christi“ bezeichnet (1. Kor. 12, 27). Täuferische und mennonitische Theologie sehen in der Kirche die Verkörperung Christi auf Erden.

Eine dritte Vorstellung von der Kirche, die für die täuferisch-mennonitische Ekklesiologie wichtig wurde, ist die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Sie geht auf eine Begebenheit zurück, als der auferstandene Jesus Christus seinen Jüngern begegnete, „sie anhauchte und sagte: Nehmet hin den heiligen Geist“ (Joh., 20, 23). Kurzum, der auferstandene Christus rüstete seine Jünger durch den Heiligen Geist aus, um sie in die Lage zu versetzen, Gemeinden zu errichten, indem sie die neue Botschaft von der Vergebung und Nachfolge in alle Welt tragen. Mit der Ausgießung des Heiligen Geistes zu Pfingsten begann sich die Kirche als die neue messianische Gemeinschaft zu verstehen, deren Hauptzug die Gegenwart des Heiligen Geistes unter den Gläubigen war. Eine kirchliche Gemeinde, die von der bindenden Gegenwart des Heiligen Geistes bestimmt ist, betont die relationale Dimension der Kirche, d. h. die Gemeindeglieder sind hier nicht isolierte Individuen, sondern konstitutive Teile des Leibes. Sehr viel später beriefen sich die Anführer der täuferisch-mennonitischen Bewegung auf diese epischen Momente in der Entstehungszeit des Neuen Testaments, um ihre Bemühungen mit Nachdruck darauf auszurichten, der Kirche im Kontext der Reformation des 16. Jahrhunderts ihre biblische Gestalt wiederzugeben.

Bedeutsam ist, dass jede dieser drei Vorstellungen vor dem Hintergrund eines jeweils bestimmten Abschnitts des biblischen Kanons erscheint. Die Vorstellung der Kirche als Volk Gottes hat ihren Hintergrund im Alten Testament. Die Vorstellung vom Leib Christi hat ihren Grund in Person und Werk Jesu Christi, wie sie in den vier Evangelien offenbart wurden. Die Vorstellung der Gemeinschaft des Heiligen Geistes wird in der Apostelgeschichte und durchgängig in den Briefen des Neuen Testaments zur Geltung gebracht. Diese drei Vorstellungen sind für die durch und durch biblische Orientierung der mennonitischen Ekklesiologie charakteristisch.

2. Vier bezeichnende Praktiken einer täuferisch-mennonitischen Kirche

Arnold Snyder identifiziert vier Praktiken, die von allen Täufern akzeptiert wurden und auf diese Weise zu besonderen Kennzeichen der täuferischen Gemeinden wurden (Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology, 156–159). Jede dieser Praktiken spiegelt die Überzeugung der Täufer wider, dass die Kirche eine Bundesgemeinde ist, dass ihr Glaube und Leben für die Gemeinde der Glaubenden und auch für die allgemeine Öffentlichkeit zu beobachten sind und dass jedes Glied des Leibes berufen ist, ein Leben in Heiligung zu führen. Die Täufer gründeten diese Praktiken auf ihre Lektüre der Heiligen Schrift. Bis auf den heutigen Tag spiegelt die mennonitische Theologie diese frühen Praktiken, wenn auch in einer gewissen Variationsbreite, wider.

(1) Das erste und am stärksten herausfordernde Kennzeichen der täuferischen Bewegung war die Praxis der Wassertaufe, die an Erwachsenen auf der Grundlage des persönlichen Glaubensbekenntnisses vollzogen wurde (→Taufe II). Wer die Taufe begehrte, bezeugte vor der Gemeinde, dass er seine Sünden bereute, die Vergebung Gottes annahm und bereit war, sich zu brüderlicher Verantwortung als treues Mitglied in der Gemeinschaft der Gläubigen zu verpflichten. Die Taufe zeigte einen Wandel in der Lebensführung an, die Abkehr vom Lebenswandel der Welt und die Hinwendung zur Gemeinschaft derer, die im Gehorsam gegenüber Christus leben (J. Lawrence Burkholder, The Anabaptist Vision of Discipleship, 135–151).

Dass die Täufer auf der Glaubenstaufe bestanden, auch wenn ihnen Verfolgung drohte, bestimmte ihre Ekklesiologie von Grund auf. Die Erwachsenentaufe zeigte die Herrschaft Christi über die Kirche an und wies jeden autoritären Einfluss des Staates auf die Kirche zurück. Ihre Taufe und die Verpflichtung, die sie nach sich zog, symbolisierte die Aktualität und die Sichtbarkeit der Kirche im Gegensatz zur Annahme, dass die Kirche vor allem und zuerst ein verborgenes Geheimnis sei.

(2) Die Täufer gingen davon aus, dass der christliche Glaube ein Leben der Zucht und Ordnung, sogar die Praxis des Banns, einschloss, und nahmen die Bergpredigt als eine ethische Forderung ernst. Dem Ethos der Lehren Jesu zu folgen, war gleichbedeutend mit den Werken der Herrschaft Gottes in seinem Reich. Die Gemeindeglieder waren verpflichtet, einander anzuhalten, Rechenschaft von einem gehorsamen Leben abzulegen. Dafür fanden sie ihre Anweisungen in Matth. 18, 15 ff., wonach die Kirche die Verantwortung trug, zu geistlicher Erbauung beizutragen, zu ermahnen, zu korrigieren und sogar ein Mitglied der Gemeinde mit dem Bann zu belegen, wenn es notwendig war. Der Bann sollte der Vision von einer reinen und heiligen Kirche dienen, den Menschen helfen, ihren Lebenswandel in der Hoffnung auf Rückkehr zu einer richtigen Beziehung zu Gott ändern und den Bußfertigen wieder in die Gemeinschaft der Kirche eingliedern. In einem Artikel eines zeitgenössischen Glaubensbekenntnisses der Mennoniten zur „Disziplin in der Kirche“ heißt es: „We believe that the pracice of discipline in the church is a sign of God's offer of forgiveness and transforming grace to believers who are moving away from faithful discipleship or who have been overtaken by sin“ (Confession of Faith, 55). Tatsächlich nahm diese Praktik den Platz der katholischen Beichte und Absolution ein – mit dem Unterschied, dass Beichte und Vergebung nicht vom Priester, sondern von der Gemeinde bzw. im Kontext der Gemeinde vollzogen wurden. Die Vision von der Nachfolge und der gemeinsamen Sorge um jedes Gemeindeglied war und ist immer noch für das täuferisch-mennonitische Verständnis vom Wesen der Kirche grundlegend.

(3) Die Praxis des →Abendmahls wurde von den Täufern im Einklang mit ihrer erneuten Lektüre der Heiligen Schrift revidiert. Sie feierten das Abendmahl als ein einfaches Ritual der Danksagung für das Opfer, das Jesus Christus am Kreuz dargebracht hatte, und als Erinnerung an seinen Tod. Zugleich war das Abendmahl eine Erinnerung und ein Zeichen, sich in Liebe mit dem Bruder und der Schwester zu verbinden. Die Vorbereitung auf die Teilnahme am Abendmahl schloss ein, Streitigkeiten mit dem Nachbarn vor dem Abendmahl auszuräumen. Der wesentliche Sinn des Abendmahls war, Jesus Christus als Retter und Herrn zu ehren und die Beziehungen unter den Glaubenden als Brüder und Schwestern im Leib Christi auf Erden zu pflegen.

(4) Besonders reichhaltig sind die Quellen, die von gegenseitiger Hilfe in den Gemeinden der Täufer von den Anfängen an berichten (→Gütergemeinschaft). Dies Praxis der Kirche wurde vom Neuen Testament angeregt, vor allem vom Beispiel Jesu und der frühen Christen um das Pfingstereignis. Die Täufer sahen es als Pflicht eines jeden Christen an, den Bedürftigen sowohl in als auch außerhalb der Kirche zu helfen. Den Anführern der Täufer war klar geworden, dass die sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen nicht mehr so fortgesetzt werden konnten, wie es in der „Welt“ der Fall war. Die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft fühlten sich verantwortlich, den Nöten des jeweils anderen zu begegnen, auch den sozialen und wirtschaftlichen Nöten (J. Winfield Fretz, Brotherhood, 194–199). Die Täufer neigten dazu, die Glieder der Gemeinde als eine Familieneinheit anzusehen, in der Brüder und Schwestern verpflichtet waren, materielle Güter miteinander zu teilen und mit den Nachbarn zu teilen. Das bedeutete für sie Kirche zu sein.

3. Eine „reine Kirche“ bei Menno Simons

Im Jahr 1536 verließ der Priester Menno Simons die römisch-katholische Kirche und wandte sich der täuferischen Bewegung zu, wo er bald zu einem einflussreichen Anführer wurde. Über die nächsten zwanzig Jahre trug er wesentlich zur Ausbildung einer mennonitischen Ekklesiologie bei, besonders mit dem Nachdruck, den er auf die Nachfolge, die Friedfertigkeit und auf das Verständnis der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden legte. Menno Simons liebte die Kirche zutiefst. In einem seiner seelsorgerlichen Briefe schrieb er: „Denn es gibt auf der Erde nichts, das mein Herz so liebt, als die Gemeinde“ (Brief an Rein Edes, 1. September 1558, in: Opera Omnia Theologica, 392). Während seiner fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit als Wanderprediger brachte er einen Geist des Friedens und der Einheit in die weit verstreuten und gelegentlich unterschiedlichen Gemeinden der Täufer.

Menno Simons war besonders an der Heiligkeit der Kirche gelegen und fasste eine Kirche „ohne Flecken und Runzel“ ins Auge. In seinem Tauftraktat schrieb er: „So muß auch die heilige, christliche Kirche ein geistlicher Same sein, eine Versammlung der Gerechten und eine Gemeinschaft der Heiligen. Diese Kirche wird hervorgebracht von Gott, aus dem lebendigen Samen des göttlichen Wortes, und nicht aus menschlichen Lehren, Satzungen und Erfindungen, und sie besteht aus Denjenigen, welche wiedergeboren und erneuert sind; welche alle Worte Gottes und seinen ganzen Willen hören, glauben und vollbringen; die ihr Fleisch sammt den Lüsten und Begierden kreuzigen; Gal. 5, 24; die Christum angezogen haben und sein Bild getragen; Gal. 3,27; die Ihm gleich, Röm. 8, 17, und himmlisch und geistlich gesinnt sind wie Er, Col. 3, 10; Phil. 2, 5 (Die christliche Taufe in dem Wasser, 1539, in: Opera Omnia Theologica, 399).

Seine Auffassung von der Kirche war ganz und gar puristisch, so vielleicht auch unrealistisch. Er hoffte, dass die Kirche durch ein geheiligtes Leben, verbunden mit der Praxis der Kirchenzucht, stets das Ideal einer untadeligen Kirche auf Erden verfolgen solle und hoffentlich auch erreichen werde. Heute würde die mennonitische Kirche stolzer darauf sein, seelsorgerlich und nicht gesetzlich die Herausforderung eines geheiligten Lebens anzunehmen. Gleichwohl lebt das Erbe, das Menno Simons hinterließ, unter den Mennoniten fort.

4. Mennonitisches Selbstverständnis einer Freikirche

Mennonitische Gemeinden werden als ein Teil der sogenannten Freikirchen betrachtet, eine ekklesiologische Bezeichnung für ein weites Spektrum kirchlicher Gruppen, die mit den Staatskirchen und der Unterordnung unter die staatliche Autorität und territoriale Herrschaft brachen, vor allem während der Reformation des 16. Jahrhunderts (→Obrigkeit). Der Begriff „→Freikirche“ kam erst im 19. Jahrhundert auf. Für die Täufer hat sich dieser Bruch, praktisch gesprochen, mit der Ablehnung der Kindertaufe und der Hinwendung zur Erwachsenentaufe ergeben.

In der Trennung von den Kirchen, die ihre territorialen Bindungen beibehielten, neigten die Täufer dazu, den Gebrauch des Begriffs „Kirche“ zu vermeiden, da dieser Begriff mit der katholischen Kirche und mit den Kirchen der obrigkeitlichen Reformation in Verbindung gebracht worden war (mit Lutheranern, Reformierten und Calvinisten). Sie zogen stattdessen Begriffe wie „Gemeinde“, „Gemeinschaft“ oder „Versammlung“ vor. Ihr Gottesdiensthaus wurde gelegentlich „Versammlungshaus“ oder „Gebetshaus“ genannt. In der Zeit, als täuferische Gruppen Menno Simons als ihren Gründervater verehrten, sprachen sie von sich als den „Mennisten“ (Mennoniten), d. h. als das „Volk Mennos“.

5. Eine gemeindezentrierte Ekklesiologie

Seit ihren Anfängen haben die Mennoniten eine gemeindezentrierte Ekklesiologie angestrebt. Eine „Freikirche“ zu sein, bedeutete, dass (örtliche) Gemeinden und (weiter gefasste) Sammlungen von Gemeinden das Recht für sich beanspruchten, ihre eigenen Angelegenheiten „von unten“ her zu regeln, anstatt sie einer Hierarchie kirchlicher Autorität „von oben“ zu unterstellen. In der Gemeinde werden Entscheidungen in einem Prozess gemeinsamer Urteilsfindung und nach geistgeführtem Konsens getroffen. Anführer (Älteste, Bischöfe, Prediger, Diakone) wurden von den örtlichen Gemeinden (oder von der weiteren Gemeinschaft mehrerer Gemeinden) für die Aufgabe gewählt, den Willen der Gemeinden zu vertreten und auszuführen. Unterordnung unter Jesus Christus schloss für alle Gemeindeglieder ein, sich gegenseitig Rechenschaft von ihrem Leben in der Kirche zu geben (1. Kor. 12, 25; Jak. 2, 14–17; 1. Joh. 3, 16).

Ekklesiologisch bedeutet das, dass die örtliche Gemeinde die eigentliche Form der Kirche ist. Die Realität der Kirche entfaltet sich in einem gegebenen örtlichen Kontext; und es ist die lokale Ebene, wo Personen einander von Angesicht zu Angesicht begegnen. Hier vor allem ereignet sich „Kirche“ (John H. Yoder, The Royal Priesthood, 241, 274). Das verneint allerdings nicht die Realität der Kirche im Großen. Örtliche Gemeinden und Denominationen, zu denen sie sich gewöhnlich auf übergeordnete Weise zusammenschließen, teilen sich die gemeinsamen Verantwortlichkeiten, die ihnen aufgetragen sind: „The church exists as a community of believers in the local congregation, as a community of congregations, and as the worldwide community of faith“ (Confession of Faith, S., 40). Abgelehnt wird allerdings die Vorstellung von der ecclesia invisibilis als der wahren Kirche, eine Vorstellung, die sich nach Yoder mit der so genannten →Konstantinischen Wende in weiten Teile der Christenheit eingestellt habe.

6. Eine missionarische Kirche

Mennoniten verstehen Kirche als missionarische Kirche. Die Täufer nahmen den Missionsauftrag Jesu ernst, seine Zeugen „bis an das Ende der Erde“ zu sein (Apg. 1, 8; Robert Friedmann, The Theology of Anabaptism, 149 ff.). Nach einer Periode der Selbsterhaltung im 17. und 18. Jahrhundert erwachte im 19. Jahrhundert wieder ein missionarischer Geist unter den Mennoniten. Heute versteht sich ihre Glaubensgemeinschaft als eine missionarische Kirche (→Mission). Die Berufung, das Evangelium zu verkündigen und ein Zeichen des Reiches Gottes zu sein, charakterisiert die Kirche als solche und fordert jedes Mitglied der Kirche auf, ein Leben zu führen, das sich dieser Berufung würdig erweist. Die Kirche versucht, sich auf friedfertige Weise missionarisch zu engagieren – ohne irgendeinen Zwang auszuüben. Missionarisches Wirken heißt Evangelisation, sozialer Dienst, Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit unter den Völkern.

7. Eine Friedenskirche

Die Mehrheit der Mennonitengemeinden hat sich selbst konfessionell als Friedenskirche definiert (Andrea Lange, Die Gestalt der Friedenskirche, 1988; Marlin E. Miller, Toward Acknowledging Together the Apostolic Character of the Church's Peace Witness, 196–207).

In der Regel bestätigen mennonitische Glaubensbekenntnisse eine Ethik der Liebe und Gewaltlosigkeit als Grundzug des Evangeliums. Es gehört zum mennonitischen Zeugnis, die Feinde zu lieben, zu vergeben, statt Rache zu üben, das Böse mit Gutem zu überwinden. Von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort mag es Unterschiede in der Deutung und Anwendung der Botschaft des Friedens geben, doch mit einigen Ausnahmen hat die täuferische Bewegung seit ihren Anfängen am Grundsatz der →Wehrlosigkeit und Gewaltlosigkeit festgehalten. Heute beteiligen sich die Mennoniten aktiv daran, allen Kirchen eine Identität als Friedenskirche zu empfehlen, da der Frieden als eine notwendige Komponente des apostolischen Glaubens und als ein wesentliches Kennzeichen der Identität christlicher Kirchen zu verstehen ist (→Friedenstheologie; Miller, Toward Acknowledging Together the Apostolic Character of the Church's Witness, 196–207; Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene, 302–305). So wird die mennonitische Ekklesiologie heute als Zeugnis an alle Kirchen in der Welt über den eigenen Kreis hinaus zu tragen versucht.

8. Ökumene und mennonitische Ekklesiologie

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Mennoniten der ökumenischen Bewegung geöffnet (→Ökumenische Bewegung), und es kann angenommen werden, dass die zwischenkirchlichen Gespräche eine Wirkung auf die weitere Entwicklung der mennonitischen Ekklesiologie ausüben werden. Das zeigen bereits die Beiträge von John Howard →Yoder und Fernando Enns in aller Deutlichkeit. Yoder stellte zwischen 1957 und 1990 Vorschläge zur Diskussion, wie ökumenische Dialoge fortgeführt und welche Erwartungen daran geknüpft werden sollten (John H. Yoder, The Royal Priesthood, 221–320): Erstens meinte er, dass es von größerer Bedeutung sei, die Autorität der Einheit, die wir suchen, zu errichten, als einen doktrinären Konsens der Kirchen untereinander zu erreichen. Die einzig bedeutsame Autorität ist Christus selbst. Zweitens ist es seiner Meinung nach wichtiger, die Einheit an dem Ort zu suchen, wo sich die Kirche als Leib Christi versammelt und erfahren wird, als eine Einheit der →Denominationen unter einer Struktur und einer Theologie anzustreben. Drittens wird das ökumenische Gespräch am besten im Geist gemeinschaftlicher Buße („community repentance“) geführt als im Geist eines konstantinischen (staatskirchlichen) Triumphalismus. Viertens wird sich das Bemühen um christliche Einheit mehr darauf konzentrieren, zu einer Übereinstimmung im christlichen Verhalten (Ethik) zu gelangen als in theologischer Lehre (Dogmatik). Schließlich gehört es zum Wesen der Kirche, dass diejenigen, die sich zu einem Glauben, einem Leib und einer Hoffnung bekennen, „auch im Gehorsam eins sein müssen“ (ebd., 228). Sichtbare Nachfolge ist ein Kennzeichen der Kirche. Fünftens beginnt das Bemühen um Einheit nicht auf der Ebene der Denominationen, sondern mit der versammelten Gemeinde, die der Ort ist, wo die Kirche, die sich als koinonia versteht, erfährt, wie Brüder und Schwestern sich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Sechstens muss ein wahrhaft ökumenisches Gespräch breite Repräsentanz anstreben und die Perspektive der Freikirchen einschließen, ja, Yoder spricht geradezu von einem „free church ecumenical style“, der die Gespräche leiten und zur Einheit der Kirchen führen sollte (John H. Yoder, The Royal Priesthood, 231; kritisch dazu: Hans-Jürgen Goertz, John Howard Yoder. Christlicher Pazifismus im Gespräch, 2013). Darin sieht Yoder den besonderen Beitrag der Mennoniten zu einer ökumenischen Ekklesiologie.

Mit einer anderen Perspektive nähert sich Fernando Enns der Einheitsfrage. Er diskutiert nicht nur, was die Mennonitengemeinden zu einem weiteren ökumenischen Dialog beitragen, sondern auch, was sie von einem zwischenkirchlichen Austausch lernen können (Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene, 306–324). Er ist davon überzeugt, dass einige Aspekte der friedenskirchlichen Ekklesiologie der Mennoniten vom Korrektiv ökumenischer Gespräche profitieren könnten: Erstens weise die mennonitische Ekklesiologie eine inadäquate Konzeption von Gemeinschaft (koinonia) auf. Das zeigt sich im Unvermögen, die Gemeinschaft in allen ihren Dimensionen zu deuten, insbesondere in den Dimensionen der Einheit und Katholizität der Kirche (ebd., 306). Zweitens hat die mennonitische Ekklesiologie sich noch nicht der Herausforderung gestellt, ihre Ekklesiologie in einer trinitarisch verankerten Theologie zur Geltung zu bringen. Zwei mennonitische Theologen, A. James →Reimer und Arnold Neufeld-Fast, haben vorher und nachher darauf hingewiesen, dass eine mennonitische Ekklesiologie den trinitarischen Referenzrahmen für die Entfaltung ihrer Lehre von der christlichen Gemeinde ernst nehmen müsse (A. James Reimer, Mennonites and Classical Theology, 539; Neufeld-Fast, Examining the Believers Church, 199 ff.).

Die eingangs erwähnten biblischen Vorstellungen von der Kirche – Volk Gottes, Leib Christi und Gemeinschaft des Heiligen Geistes – könnten als Ausgangspunkt für eine trinitarische Fundierung der Ekklesiologie in mennonitischer Perspektive dienen.

Bibliografie (Auswahl)

Harold S. Bender, These Are My People. Scottdale, PA, und Kitchener, Ont.,1962. - Fritz Blanke, Brüder in Christo, Zurich 1955. - J. Lawrence Burkholder, The Anabaptist Vision of Discipleship, in: Guy F. Hershberger (Hg.) The Recovery of the Anabaptist Vision. Scottdale PA, 1957, 135–151. - Confession of Faith in a Mennonite Perspective, hg. von General Board of the General Conference Mennonite Church und Mennonite Church General Board, Scottdale, PA, 1995. - Fernando Enns, Believers Church Ecclesiology: A Trinitarian Foundation and Its Implications, in: Abe Dueck, Helmut Harder, Karl Koop (Hg.), New Perspectives in Believers Church Ecclesiology Winnipeg 2010, 179–198. - Ders., Friedenskirche in der Ökumene. Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit, Göttingen 2003. - J. Winfield Fretz, Brotherhood and the Economic Ethic of the Anabaptists, in: Guy F. Hershberger (Hg.), The Recovery of the Anabaptist Vision, Scottdale, PA, 1957, 194–201. - Robert Friedmann, The Theology of Anabaptism, Scottdale, PA, 1973. - Hans-Jürgen Goertz, John Howard Yoder. Christlicher Pazifismus im Gespräch, Göttingen 2013. - Andrea Lange, Die Gestalt der Friedenskirche. Beiträge zu einer Friedenstheologie 2, Weisenheim/Berg 1988. - John Lapp und Arnold Snyder (Hg.), A Global Mennonite History: Africa, Bd. I., Kitchener, Ont., und Scottdale, PA, 2003. - Franklin H. Littell, Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966 (Orig.: The Anabaptist View of the Church, Boston, Mass., 1958). - Marlin E. Miller, Toward Acknowledging Together the Apostolic Character of the Church's Peace Witness, in: Marlin E. Miller und Barbara Nelson Gingerich (Hg.), The Church's Peace Witness. Grand Rapids, MI, 1994, 196–207. - Arnold Neufeldt-Fast, Examining the Believers Church within a Trinitarian-Missional Framework, in: Abe Dueck, Helmut Harder, Karl Koop Hg.), New Perspectives in Believers Church Ecclesiology. Winnipeg 2010, 199–220. - A. James Reimer, Mennonites and Classical Theology. Dogmatics for Christian Ethics. Kitchener, Ont., 2001. - Menno Simons, Opera Omnia Theologica, Amsterdam 1681. - C. Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology, rev. Aufl., Kitchener, Ont., 1997. - John Wenger (Hg.), The Complete Writings of Menno Simons, Scottdale, PA, 1956. - John Howard Yoder, The Priestly Kingdom, Notre Dame, IN, 1984. - Ders., The Royal Priesthood. Essays Ecclesiological and Ecumenical. Scottdale, PA, 1998.

Helmut Harder

 
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