Klassen, Hans

geb. am 13. September 1893 in Nowo-Sofijewka (Ukraine), Russland, gest. am 18. September 1959 in München; Lebensreformer, Verleger.

Hans Klassen wuchs in einer deutschstämmigen Mennonitenfamilie auf. Sein Vater war Johannes Klassen (geb. 1856, ermordet 1919), seine Mutter Katharina Vogt (1860–1912). Von 1900 bis 1907 besuchte er die deutsche Volksschule in Ekaterinowka, anschließend bis 1909 die Zentralschule (Mittelschule) in Nikolajewka und 1909 bis 1913 die Kommerzschule in Halbstadt (Ukraine). 1914 schrieb er sich er an der Hochschule in Ilmenau (Thüringen) ein und studierte Elektrotechnik. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse diente er im Ersten Weltkrieg als Dolmetscher, bis er als „feindlicher Ausländer“ in das Kriegsgefangenenlager Altengrabow und auf Schloss Hassenberg (Landkreis Coburg) interniert wurde.

Nach Kriegsende arbeitete Klassen beim Hilfswerk Brüder in Not (Benjamin H. →Unruh). Für die Deutschen in Russland veranstaltete er Geldsammlungen und berichtete von deren Schicksal an Volkshochschulen, Genossenschaften und Vereinen. Er beteiligte sich an Siedlungsprojekten und gründete in Sonnefeld eine Kommune, die an Vegetarismus, Pazifismus und Gütergemeinschaft ausgerichtet war. Gleichzeitig leitete Klassen von hier aus das süddeutsche Zentrum des Deutschen Versöhnungsbundes. 1926 traten er und seine Frau der Religiösen Gesellschaft der Freunde (→Quäker) bei (Ausschluss 1939 aus unbekannten Gründen). Auch ein Verlag wurde aufgebaut, den Klassen leitete und in dem er bis zu seinem Lebensende religiöse und lebensreformerische Schriften vertrieb.

Im Mai 1928 verließ Klassen, dem Unzulänglichkeiten und die Forderung nach Einführung von Partnertausch vorgeworfen wurden, die Kommune. Klassen zog nach Heppenheim, wo er sich verstärkt verlegerischen Tätigkeiten widmete. Fünf Jahre bis zum Beginn des Nationalsozialismus begleitete Klassen den Privatsekretär Tolstojs, Valentin Bulgakow, als Dolmetscher auf Vortragstouren durch Deutschland. 1935/36 hielt er sich im brasilianischen Witmarsum auf, wo er an einer Schule der Mennoniten Deutsch unterrichtete. In Heppenheim wohnte er im Kontakt mit bedeutenden lebensreformerischen Individualisten wie Ewald Könemann (1899–1976), Otto Paucke (1898–1984) und Adolf Friedrich Ellerbrock (1858–1959). Am Essigkam, dem südlichen Stadtrand, baute Klassen illegal ein russisches Holzhaus, wo er eine Süßmostzubereitung samt Verkauf und eine „Diät-Pension“ betrieb. Er stand zu dieser Zeit in regem Kontakt mit dem Gründer der Odenwaldschule Paul Geheeb (1870–1961) und der Familie Martin Bubers (umfangreicher Briefwechsel erhalten).

1937 musste Klassen mit seiner ersten Frau aus Gesundheitsgründen nach Kärnten ziehen, die gesamte Verlagsarbeit wurde nach St. Urban am Ossiacher See verlegt. Um vom Alpentourismus zu profitieren, baute er dort ein vegetarisches Heim mit Diätpension. Nach dem Anschluss Österreichs arbeitete Klassen in Darmstadt als Kursleiter für Russisch am Volksbildungswerk der Deutschen Arbeitsfront, wechselte 1940 zur dortigen Landesversicherungsanstalt und schließlich an einen Privatbetrieb nach Oranienburg bei Berlin. Ab Mai 1941 stand er der Berliner Geschäftsstelle der „Deutschen Post aus dem Osten“ vor, die der Verband der Russlanddeutschen betrieb. Vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete wurde er bald als Sachbearbeiter der Abteilung „Deutsche Volkstums- und Siedlungspolitik“ eingestellt und arbeitete dort von November 1942 bis März 1943. Anschließend war er in der Abteilung „VINETA Aktivpropaganda“ im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda tätig. Am 24. August 1944 trat er seine neue Arbeitsstelle in Litzmannstadt in der Einwanderungszentrale als Sachbearbeiter an. Noch 1944, wenige Monate vor dem Ende des Dritten Reichs, erwarben er und seine Frau durch Einbürgerung die deutsche Staatsbürgerschaft.

Das Kriegsende erlebte Klassen in Sachsen. Dann zog er von Alsbach (bei Seeheim) nach Kassel, wo er ab 1948 erneut als Staatenloser gemeldet war. 1948 befand er sich im Besitz einer Lizenz der US-Militärregierung zum „Versand von Friedensliteratur“ und arbeitete im oberbayerischen Peissenberg und Stephanskirchen. Ebenfalls 1948 reichte er in Ludwigsburg bei der International Refugee Organization einen Unterstützungsantrag ein und gab sich als Mennonit holländischer Abstammung aus. Auch die Existenz seiner Kinder und seine Tätigkeiten im Umfeld der Nationalsozialisten verschwieg er. Vielmehr gab er an, von 1940 bis 1945 als Prediger für eine Berliner Gemeinde 200 RM monatlich verdient zu haben. Ebenso ergänzte er seinen Lebenslauf dahingehend, dass er von 1918 bis 1919 das Predigerseminar in Berlin besucht haben will, was nachweislich nicht zutrifft. In den folgenden Jahren machte Klassen immer wieder falsche Angaben und gab sich verschiedene Identitäten. Erwiesen ist, dass er als Mennonit Unterstützung vom Hilfswerk für Ostumsiedler der evangelischen Kirche erhielt, bis er 1949 in die Schweiz zog. Dort warb er unter Täufergemeinden für die Ausreise nach Übersee und arbeitete in Tessiner Hotels und Erholungsheimen.

1951 kehrte Klassen aus der Schweiz nach Stephanskirchen zurück, zog dann 1953 wieder in die Schweiz und 1957 endgültig nach Deutschland zurück, um sich in München niederzulassen. Er reiste jedoch weiterhin regelmäßig nach Lugano, Zürich und Hasliberg-Goldern. Häufig war er auch in der Bergstraßenregion zu finden, wo er bei Pfingstgemeinden predigte, so in Babenhausen, Schaafheim und Harreshausen. Einerseits fand er begeisternden Zuspruch, andererseits wurde er wegen falscher Angaben und Betrugs inzwischen vom Verfassungsschutz observiert. Unterstützt wurde er bis zu seinem Lebensende von Geheeb und seinem Freundeskreis, vor allem finanziell und in Visaangelegenheiten. Auch eine Reise in die USA und nach Kanada zu seinen Verwandten unternahm er. 1957 verunglückte er schwer bei einem Unfall mit dem eigenen Wagen. Noch ein Jahr später reiste er nach Moskau, wo er ein Schulbuch für die DDR bearbeitete, da Klassen in seinen letzten Lebensjahren ein Interesse am Stalinismus entwickelte.

Klassen war mindestens drei Mal verheiratet: 1919 erfolgte die Hochzeit mit Wally Klassen (geb. Rast, 1893–1939). 1920 wurde in Mühlhausen ihr Sohn Hanno geboren (gest. 2004), der nach 1945 in die USA auswanderte; seine Tochter Irene (geb. 1922, verheiratete Pützel) lebte später in Kassel-Wilhelmshöhe. 1940 ging Klassen nach dem Tode seiner ersten Frau mit der Schauspielerin Johanna Schäfer (1922–1979) in Ettenheim eine Ehe ein, was ihm den Umzug nach Groß-Glienicke bei Berlin ermöglichte. 1957 heiratete er in Riedering (Kreis Rosenheim) Erika Wilhelmine Bertges (1929–2008).

Publikationen

Der Friedensgedanke in der Kinderwelt, in: Neu-Sonnefelder Jugend 2, 1925, 14–15. - Aus Walter Rauschenbuschs Leben und seiner Reichsgottes-Botschaft, in: Am Neubruch, Sonnefeld bei Coburg 1926, 74–87. - Valentin Bulgakov in Deutschland, in: Monatshefte der Deutschen Freunde 4, 1927, 64–67. - Blumen am Wege, Kassel 1946. - Fibel. Für die 1. Klasse der Anfangsschule, 2. Aufl., o.O. 1958.

Literatur

Georg Becker, Die Siedlung der deutschen Jugendbewegung, Hilde 1929. - Rainer Axmann, Gemeinschaft im Geiste des Quäkertums – Kommunität und „Kinder-Land“, in: Coburger Friedensbuch, Meeder 1991, 179–188. - Claus Bernet, Lebensreform in Oberfranken: Hans Klassen und die Kommune Neu-Sonnefeld, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 67, 2007, 241–354. - Ders., Hans Klassen: Lebensreformer und Bürokrat, Nationalsozialist und Kommunist, Mennonit und Quäker, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2009, 125–146.

Claus Bernet

 
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