Tiessen, Dietrich

geb. am 24. Juni 1927 in Kitschkass, Orenburg, Sowjetunion, gest. am 23. März 2006 in Minden, Deutschland; Ältester der Mennonitengemeinden im Gebiet Orenburg und Minden.

Im Alter von fünfzehn Jahren wurde Dietrich Tiessen am 7. November 1942, zusammen mit zehn anderen Dorfbewohnern, nach Molotow/Gremjatschinsk in die Trudarmee (Arbeitsarmee) eingezogen. Hunger, Kälte, Heimweh und schwere Arbeit weit über seine Kräfte hinaus wurden von nun an Teil seines Lebens. Nach vier Jahren durfte er ins Arbeitslager nach Korkino wechseln, dort befanden sich seine Mutter und Geschwister. 1947 nutzte er die Gelegenheit und reiste in sein Heimatdorf Kitschkass, dort begegnete er Helena Unrau. Erst 1949 durfte Helena das Dorf Kitschkass verlassen und nach Korkino ziehen, wo sie am 11. September Dietrich Tiessen heiratete. Die nächsten Jahre in Korkino waren schwer, aber für das junge Ehepaar waren es die glücklichsten Jahre ihres Lebens.

1954 durfte Dietrich Tiessen mit seiner Frau und den zwei Kindern zurück nach Kitschkass ziehen. Ihm wurde eine Arbeitsstelle als Tischler in der Kolchose zugewiesen, später kamen noch andere Aufgaben dazu. Tiessen war durch die harte Zeit in der Arbeitsarmee gesundheitlich angeschlagen.

Bei der ersten Taufe (nach mehr als 20 Jahren) im Dorf Kitschkass am 30. März 1956 befanden sich Dietrich Tiessen und seine Frau Helena unter den 25 Täuflingen. Die Taufe wurde vom Ältesten Abram →Dyck durchgeführt. D. Tiessen schreibt: „Es war ein Freudentag und für mich noch ein Tag der Verantwortung. Ich wurde von der Gemeinde und Ältesten als Diener am Worte Gottes gewählt. Das war für mich eine schwere Zeit, ich konnte schlecht lesen und hatte auch eine kleine Erkenntnis im Worte Gottes, aber der Herr half (…) Es gab viele schlaflose Nächte, aber es war der Weg des Herrn.“

1968 wurde Tiessen als Prediger ordiniert und zum Ältestenhelfer gewählt. Zehn Jahre später wurde er zum Nachfolger des Ältesten Abram Dyck gewählt und am 10. September 1978 durch diesen zum Ältesten der Kirchengemeinde in der Orenburger Ansiedlung ordiniert. Als Ältestenhelfer standen ihm die Prediger Johann Wallmann aus Petrowka und Johann Martens aus Dobrowka zur Seite. In den folgenden Jahren übten der Geheimdienst (KGB) und die örtlichen Behörden massiven Druck auf den neuen Ältesten aus. Er wurde viele Male zu Verhören und „Gesprächen“ vorgeladen, man drohte ihm damit, ihn zu inhaftieren und seiner Familie die Kinder wegzunehmen. Das eine Mal verlangten die Behörden die Herausgabe der Gemeindemitgliederliste, das andere Mal die Auflösung der Gemeinde. Jede Vorladung war mit großer Ungewissheit verbunden, niemand wusste, ob er noch als freier Mensch wieder zu seiner Familie zurückkommen würde.

Seine Predigten waren meistens evangelistisch ausgerichtet, seine Predigtart war eher hart und bildete einen Kontrast zu der seines Vorgängers. Wegen der Gemeinderegistrierung musste er schon bald Kontakt zu dem Baptistenbund in Moskau aufnehmen, was für die Gemeinde nicht unproblematisch war. Aber durch diese Kontakte verbesserte sich der Umgang zwischen den Mennonitengemeinden (sogenannten Kirchlichen Mennoniten) und den Mennoniten-Brüdergemeinden. Im Juli 1984 ergab sich für ihn die Gelegenheit, als Delegierter der (Kirchlichen) Mennonitengemeinden an der →Mennonitischen Weltkonferenz in Straßburg, Frankreich, teilzunehmen. Für Tiessen war es ein besonderes Erlebnis, die Sowjetunion für eine kurze Zeit verlassen zu dürfen.

Wenn es um die Angelegenheiten der Gemeinde ging, ließ Tiessen alles andere dafür ruhen. Eine große Unterstützung war ihm dabei seine Familie. Er war viel unterwegs in den Dörfern der Orenburger Ansiedlung, fühlte sich dazu verpflichtet, auch die etwas weiter abgelegene Gemeinde in Solilezk zu betreuen. Bis zu seiner Ausreise nach Deutschland im Jahre 1989 war Dietrich Tiessen Ältester der Orenburger Kirchengemeinde. Kurz vor seiner Ausreise nach Deutschland am 29. Mai 1988 ordinierte er zwei Prediger zu Ältesten der Gemeinden: Johann Wallmann in Petrowka und Heinrich Klippenstein in Nikolajewka.

Ein neues Zuhause fand D. Tiessen mit seiner Familie in Minden, wo sich bald auch ein neues Arbeitsfeld ergab. In Minden und Umgebung wohnten inzwischen viele Menschen aus dem Gebiet Orenburg und anderen Gegenden der ehemaligen Sowjetunion. Viele suchten ein geistliches Zuhause, was dann schon im Jahre 1988 zur Gründung der Mennonitengemeinde Minden führte. D. Tiessen wurde zum Ältesten dieser Gemeinde gewählt. Zuerst fanden die Versammlungen in gemieteten Räumen statt, und als die Gemeinde größer wurde, entschied man sich für den Bau einer neuen Kirche. Dem Aufbau dieser Gemeinde gab Dietrich Tiessen seine Zeit und Kraft. Auch hier gab es schöne und schwere Zeiten.

Am 16. Juni 1996 legte Dietrich Tiessen sein Ältestenamt in der Gemeinde Minden nieder. Im März 2006 starb in Minden an Leukämie. Ein Bibelvers (Philipper 1, 21) wurde ihm in den schweren Jahren seiner Krankheit besonders wichtig: „Jesus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“.

Quellen

Dietrich Tiessen, Notizen: Die Entstehung der Kitschkasser Kirchengemeinde, vom 21. November 1980. - Lebenslauf von Dietrich Tiessen, Die Chronik. - Befragt wurden als Zeitzeugen: Johann Wallmann, Bad Oeynhausen; Johann Martens, Bielefeld.

Heinrich Unrau

 
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