Unruh, Benjamin Heinrich

geb. am (4.) 17. September 1881 in Timir-Bulat (Philippstal, Krim), Russland, gest. am 12. Mai 1959 in Mannheim, Deutschland; Lehrer, Prediger, Theologe, Historiker, Schriftsteller, Vertreter der Mennoniten Russlands in Europa und Amerika.

Benjamin H. Unruh entstammte einer Familie, die seit 1845 in Russland lebte. Sein Vater war Landwirt auf der Krim und Ältester der Mennonitengemeinde in Karassan. Der Sohn erhielt seine Grundschulausbildung auf der Krim und besuchte ab 1895 die Zentralschule in Ohrloff (Molotschna), danach absolvierte er eine Ausbildung am Lehrerseminar in Halbstadt (pädagogischer Kursus). Vom Herbst 1900 bis zum Herbst 1907 studierte er Theologie an der Evangelischen Predigerschule in Basel und Kirchengeschichte, Philosophie und Germanistik an der Universität Basel. Er promovierte 1907 zum Lizentiaten der Theologie mit einer Dissertation über die Kommentare des Herveus Burgidolensis.

Im August 1907 heiratete er Frieda Hege, Tochter des Ältesten Christian Hege von Breitenau (Kreis Heilbronn). Dem Paar wurden vier Söhne und vier Töchter geboren. Nach dem Tod seiner Frau im Dezember 1946 heiratete er 1948 Paula Hotel, Tochter des Ältesten Johannes Hotel auf dem Batzenhof bei Durlach.

Seit 1908 unterrichtete B. H. Unruh die Fächer Deutsch und Religion an der mennonitischen Kommerzschule (Oberrealschule) in Halbstadt und an der Mädchenschule (Mädchengymnasium) in Neu-Halbstadt. 1910 wurde er in das Beamtenverhältnis als Lehrer an Gymnasien für Deutsche Sprache und Literatur sowie Religion berufen. Seine pädagogischen Fähigkeiten fanden noch unter der Zarenregierung, als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war und sich die damit verbundene allgemeine Deutschenhetze bald in Russland ausbreitete, Anerkennung durch die Verleihung des Stanislaus Ordens.

Nach der russischen Revolution 1917 begann das öffentliche Wirken Unruhs für die Mennoniten in →Russland. Er wurde zum Vertreter der Mennoniten im Kongress der Deutschen, Vorsitzender des „Mennozentrums“ und Kandidat der Mennoniten für die allrussische Nationalversammlung 1917. Im Herbst 1919 wurde er in die Studienkommission berufen und fuhr als Schriftführer dieser Kommission nach Nordamerika, um dort die Möglichkeiten einer Ansiedlung russischer Mennoniten zu erkunden. In diesem Zusammenhang wurden mehrere Hilfswerke gegründet: in den USA (Mennonite Central Relief Committee), in Kanada (Canadian Mennonite Central Committee), in Deutschland (Mennonitische Flüchtlingsfürsorge, später Deutsche Mennoniten-Hilfe) und in den Niederlanden (Algemeene Commissie voor Buitenlandsche Nooden).

Auf der Rückreise wurde ihm in Rotterdam eröffnet, dass er nicht mehr in die Sowjetunion zurückkehren dürfe. So ließ er sich in Karlsruhe-Rüppurr nieder und setzte von dort aus seine Arbeit für die russlanddeutschen Mennoniten mit Unterstützung der nordamerikanischen und niederländischen Mennoniten fort. Er begann auch Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt der deutschen Regierung, um Flüchtlinge im Lager Lechfeld aufzunehmen, bevor diese später über Atlantic Park in Southampton (England) nach Kanada auswandern konnten. 1922 wurde die „Hungerhilfe – Brüder in Not“ gegründet. In demselben Jahr erhielt er einen Lehrauftrag für russische Sprache, Literatur und Kulturgeschichte an der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Da er nicht deutscher Staatsbürger war, unterrichtete er vom Herbst 1922 bis zum Herbst 1942 ohne reguläres Gehalt und ohne Pensionsansprüche. Auch nach der Einbürgerung wurde er nicht verbeamtet.

Besonders prekär wurde die Situation der Mennoniten in der Sowjetunion, als sich 1929/1930 mehr als fünfzehntausend Mennoniten und andere deutschstämmige Bauern auf den Weg nach Moskau begaben, um dort eine Genehmigung zu erwirken, aus der Sowjetunion ausreisen zu dürfen. Unruh, Otto Auhagen und anderen Vertretern der deutschen Botschaft in Moskau sowie zahlreichen Hilfsorganisationen gelang es, 3.885 Mennoniten, 1.260 Lutheraner, 468 Katholiken und 58 sonstige nach Deutschland ausreisen zu lassen. Aus Sorge um die Ausreisewilligen schrieb Unruh seinen berühmten Aufruf Mitten im Sturm und half mit, Flüchtlingslager in Hammerstein, Prenzlau und Mölln, später weitere Heime in und bei Hamburg entstehen zu lassen. Auch sorgte Unruh dafür, dass „Brüder in Not“ in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, so dass den Flüchtlingen auf mancherlei Weise aus Spendenmitteln geholfen werden konnte. Sogar Staatspräsident Paul von Hindenburg folgte den Spendenaufrufen. Weil Kanada nur eine begrenzte Zahl von diesen Flüchtlingen aufnahm, mussten etwa 2/3 in Paraguay und Brasilien eine neue Heimat suchen. Zu einem besonderen Forum für die Organisation von Spenden und Hilfsgütern wurde die zweite →Mennonitische Weltkonferenz 1930 in Danzig.

Schnell stellte sich Unruh 1933 auf die veränderten innen- und außenpolitischen Verhältnisse im →Dritten Reich ein. Seine Devise war, den Mennoniten, die noch in Russland verblieben waren, zu helfen. Zu diesem Zweck unterhielt er enge Beziehungen zu nationalsozialistischen Funktionsträgern in der Regierung, vor allem im Auswärtigen Amt und in den Behörden, die Heinrich Himmler unterstanden. Was ihn mit dem Nationalsozialismus verband, war der gemeinsame Kampf gegen den Bolschewismus und die Bereitschaft, den deutschen Volksgenossen im Ausland hilfreich unter die Arme zu greifen. Seine Wirksamkeit während des Dritten Reichs lässt sich mit fünf Stichworten, die immer wieder in seinen offiziellen Berichten zu finden sind, umreißen: Russlandhilfe (oder Pakethilfe), Harbin Transport, Paraguay, Brasilien und Mennonitenheim. Dabei beschränkte sich seine Zusammenarbeit nicht alleine auf mennonitische Organisationen, er arbeitete auch mit einem halben Dutzend deutscher Institutionen zusammen, die unter der Schirmherrschaft des Deutschen Roten Kreuzes in der Organisation „Brüder in Not“ miteinander verbunden waren. Nach den positiven Erfahrungen, die er mit nationalsozialistischen Funktionsträgern im Staat gesammelt hatte – mit Heinrich Himmler traf er sich Silvester 1942 in seinem Sonderzug in Ostpreußen und bei Himmler hat er auch die Erlaubnis für die Mennoniten erwirken können, den Eid verweigern zu dürfen – blieb es nicht aus, dass er sich gegen jede auch nur leise aufkommende Kritik am nationalsozialistischen Regime in den deutschen Mennonitengemeinden wandte und zu einem Befürworter der völkischen Sache unter den Mennoniten in den Kolonien →Paraguays wurde.

Schon zwei Monate nach Kriegsende war Benjamin Unruh intensiv damit beschäftigt, Verbindungen mit mennonitischen und lutherischen Kirchenführern aufzunehmen, um bei der Betreuung Tausender von mennonitischen Flüchtlingen aus Russland und Westpreußen mitzuhelfen, die über das gesamte vom Krieg zerrissene Europa verstreut waren. Noch immer war er der offizielle Vertreter der Heimatsiedlungen und Heimatgemeinden in Russland und der offizielle europäische Repräsentant des Canadian Mennonite Board of Colonization sowie des nordamerikanischen →Mennonite Central Committee (MCC). Schnell war es jedoch zu Meinungsverschiedenheiten mit dem MCC gekommen. Einige nordamerikanische Vertreter des MCC begannen, Unruhs Verhältnis zum NS-Regime während des Dritten Reiches ernsthaft zu hinterfragen und ihn als mögliche Belastung für das MCC bei den Verhandlungen mit den englischen und amerikanischen Besatzungsbehörden zu empfinden. Bei einer Zusammenkunft von deutschen Kirchenführern und MCC-Vertretern im November 1947 auf dem Thomashof wurde Harold S.→Bender die unangenehme Aufgabe übertragen, Benjamin Unruh dazu zu bewegen, ein kleines Ruhegehalt vom MCC anzunehmen und als Gegenleistung von ihm zu verlangen, sich von allen Tätigkeiten für das MCC zurückzuziehen. Bender unterbreitete Unruh den Plan als Möglichkeit, sich künftig voll und ganz seiner Tätigkeit als Schriftsteller und Wissenschaftler widmen zu können. Doch Unruh lehnte mit aller Entschiedenheit ab. Schließlich ignorierten die Vertreter des MCC Unruh einfach und gingen zur Tagesordnung über.

Neben seiner wichtigen Rolle als Vertrauensmann und Vertreter der russländischen Mennoniten in Amerika entfaltete Unruh auch eine ausgreifende wissenschaftlich-schriftstellerische Tätigkeit, welche sich über fünfzig Jahre von 1909 bis 1959 erstreckte. Er widmete sich verschiedenen theologischen und kirchenhistorischen Themen, so seine Studie zu den Kommentaren des Herveus Burgidolensis (1909), verschiedene Artikelserien über den Römerbrief, die Offenbarung des Johannes und andere Teile der Bibel in dem Gemeindeblatt der Mennoniten und in Der Bote, mehrere Aufsätze zur Geschichte der Täufer im 16. Jahrhundert und seine längere, unveröffentlichte Arbeit zum synoptischen Problem („Die Abhängigkeit des Lukas von Matthäus“, 1940), welche er der Universität Heidelberg als Dank für die ihm verliehene Würde eines Ehrendoktors der Theologie (1937) widmete.

Unruh schrieb auch seit 1909 ausgiebig zu pädagogischen Themen, zuerst in den deutschen Kolonien Russlands und später zur Kollektiv-Erziehung in der Sowjetunion (1931). 1934 begann er die Arbeit an einer geplanten mehrbändigen Buchreihe über die Herkunft und Geschichte der Russland-Mennoniten. Viele dieser Manuskripte gingen während des Krieges verloren, aber 1955 konnte er einen Band zu den niederländisch-niederdeutschen Hintergründen der mennonitischen Ostwanderung veröffentlichen. Er schrieb auch eine große Anzahl von Aufsätzen in verschiedenen mennonitischen Zeitschriften zu diesem Thema. Als letzte (posthume) Veröffentlichung erschienen Teile aus seiner umfangreichen Studie zum Welthilfswerk der Mennoniten in dem Buch Fügung und Führung (1966).

Publikationen in Auswahl

Die Kommentare des Herveus Burgidolensis, Heilbronn 1909. - Leitfaden für den Religionsunterricht, Halbstadt, 1913. - Reformation und Revolution in Russland, Wernigerode 1928. - Walter Heim [Pseudonym], Die Kollektiv-Erziehung in der Sowjetunion, Berlin 1931. - Heinrich Toews [Pseudonym], Eichenfeld – Dubowka, Karlsruhe 1938. - Die niederländisch-niederdeutschen Hintergrunde der mennonitischen Ostwanderungen, Karlsruhe, 1955. - Fügung und Führung im Mennonitischen Welthilfswerk 1920–1933, Karlsruhe 1966. - Zahlreiche Aufsätze zur Pädagogik, Täufer- und Mennonitengeschichte, Flüchtlingsfürsorge, Auswanderung u. a. m. siehe bibliografische Angaben in Heinrich Unruh, Fügungen und Führungen, Benjamin Heinrich Unruh (1881–1959), 455–471.

Literatur in Auswahl

Heinrich B. Unruh, Fügungen und Führungen. Benjamin Heinrich Unruh (1881–1959), Detmold, 2009. - Geburtstagshuldigungen und Nachrufe sind bibliografisch erfasst in: Heinrich Unruh, Fügungen und Führungen. Benjamin Heinrich Unruh (1881–1959), 472–474 (Rez. Von Gerhard Rempel, in: Mennonite Quarterly Review 84, 2010, 275–278; ebenfalls von Alfred Neufeld, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2010, 176–183. - Lexikonartikel: Unruh, Benjamin Heinrich (Harold S. Bender), in: Mennonite Encyclopedia IV, 1131–1132. - Unruh, Benjamin Heinrich (Ernst Crous), Mennonitisches Lexikon IV, 389–390.

Peter Letkemann (Winnipeg)

 
www.mennlex.de - MennLex V :: art/unruh_benjamin_heinrich.txt · Zuletzt geändert: 2020/05/25 17:15 von bw     Nach oben
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