Westerburg, Gerhard

geb. um 1490 in Köln, gest. 1558 in Dykhausen (Ostfriesland), Deutschland; Reformer zwischen den Fronten reformatorischer Bewegungen.

Als Sohn des wohlhabenden Kölner Ratsmitglieds Arnold Westerburg, absolvierte Gerhard Westerburg sein Grundstudium in Trier und Köln und erwarb 1515 des Grad eines Magister artium. 1517 schloss er seine Ausbildung in Bologna mit dem Doktor des weltlichen und kirchlichen Rechts ab. Die von Martin →Luther ausgehende Erneuerung zog ihn wohl schon Ende 1521 von Köln nach Wittenberg, wo er zuerst mit den →Zwickauer Propheten und dann mit Andreas Bodenstein von →Karlstadt Verbindungen aufnahm. Er heiratete Margarete von Mochau, eine Schwester der Ehefrau Karlstadts, und ließ sich 1523, nicht weit von der Orlamünder Pfarrei seines Schwagers, in Jena nieder. Seinen Lebensunterhalt bestritt Westerburg aus dem 1513 vom Vater ererbten Rheinfahrtrecht bei Deutz. Als Startimpuls zur Reformation seiner Heimatstadt geplant, verfasste Westerburg eine in deutscher und lateinischer Fassung verbreitete Flugschrift gegen die altgläubige Lehre vom Fegefeuer; deren volkssprachliche Version adressierte er hoffnungsvoll an Bürgermeister und Rat der Stadt Köln. Beim anschließenden Versuch, mit Beistand des in Jena wirkenden Predigers und Karlstadtanhängers Martin Reinhart, in Köln eine öffentliche Debatte darüber anzustoßen, wurden beide Ende Oktober 1523 der Stadt verwiesen. Im Herbst 1524 nahm Westerburg im Auftrag Karlstadts mit dem radikalreformatorischen Züricher Kreis um Felix →Mantz und Konrad →Grebel direkten Kontakt auf. Gemeinsam wurde in Basel die Drucklegung mehrerer von Westerburg mitgebrachten Karlstadtschriften besorgt. Bei seiner Rückkehr nach Jena fand er Anfang Oktober 1524 den Ausweisungsbefehl aus Kursachsen vor und begab sich nach Frankfurt am Main. Dort beteiligte er sich an der Formulierung der 46 Artikel mit Forderungen an den Stadtrat, der Grundlage des Frankfurter Bürgeraufstands im April 1525. Nach der Niederlage der Aufständischen wurde Westerburg Mitte Mai 1525 aus der Stadt gewiesen. Nach Köln zurückgekehrt, lebte er dort im Schutz seines familiären Beziehungsgeflechts.

Heftiger Widerstand des altgläubigen Lagers in Köln gegen den als „Dr. Fegefeuer“ Verpönten führte nach Westerburgs Weigerung, →Widerruf zu leisten, zur Verurteilung von siebzehn ketzerischen Artikeln, die seiner Schrift De purgatorio et animarum statu (…) sententia ex sacris litteris collecta entnommenen worden waren (März 1526). Dagegen und gegen den Verlust seines Erblehens an der Rheinfahrt auf Betreiben der Inquisition, legte er erfolgreich Einspruch vor dem Reichskammergericht in Esslingen ein. So erwirkte er seinen weiteren Verbleib und den Erhalt seiner Einkünfte in Köln – trotz der Agitation des Johannes Cochläus gegen ihn in der Flugschrift Von christgläubigen Seelen im Fegefeuer, wie ihnen Hilfe und Trost von Lebenden in der christlichen Kirche geschehen soll (1526). Durch die erneute Veröffentlichung des Speyrer Religionsmandates (→Reichstage) vom April 1529 verschärfte der Kölner Erzbischof Hermann von Wied im Juni dieses Jahres den Druck gegen die in Köln erstarkten evangelischen Bestrebungen. Im September musste Westerburg die Hinrichtung seiner Freunde Peter Fliesteden und Adolph Clarenbach als Ketzer hinnehmen. Der ihm nahestehende Johann Klopreis schaffte die Flucht. Vergeblich versuchte Westerburg im Oktober 1529 am Religionsgespräch in Marburg teilzunehmen. Als im Dezember 1532 ein kaiserliches Mandat dem Kölner Rat striktes Vorgehen gegen lutherische und ketzerische Lehre auferlegte, wurde der Widerstand seiner Gegner stärker, und ihm wurde durch erzbischöflichen Druck sein Fahrlehen entzogen. Mit der ausführlichen 1533 in Marburg gedruckten Dokumentation Wie die Hochgelehrten von Köln den Doktor Gerhard Westerburg (…) als einen Ungläubigen verurteilt und verdammt haben, legte er die langjährigen Machenschaften gegen ihn offen. Ende Dezember desselben Jahres reiste er, sein Bruder Arnold und deren gemeinsamer Freund Henrik Rol nach →Münster. Alle drei empfingen dort mit vielen anderen Anfang Januar 1534 die Glaubenstaufe. Zurück in Köln taufte Westerburg Mitte Februar seine Ehefrau, den Hausgehilfen Michel und Richard von Richrath. Im April 1534 wirkte er zusammen mit Henrik Rol in →Straßburg. Verstärkte Fahndungen nach Täufern, „ob arm oder reich“, in Köln ab August dieses Jahres ließen Westerburg seine Heimatstadt verlassen. Über seinen Aufenthalt von diesem Zeitpunkt an bis 1542, wo er als Doktor der heiligen Schrift in den Dienst Herzog Albrechts von Preußens eintrat, ist nichts bekannt. Möglich wäre ein Aufenthalt in Basel, wo sein Schwager Karlstadt als Hochschullehrer tätig war.

Trotz reformationskonformen Auftretens am neuen Betätigungsfeld in Preußen musste Westerburg Ende September 1542 seine Glaubensüberzeugungen schriftlich niederlegen, auch mit einer klaren Aussage zur Taufe: „Non video, cur parvulis debet subtrahi hoc baptismatis sacramentum, praesertim quum et Christus dominus etiam pro parvulis mortuus sit et culpa eorum ablata peccatoque damnati illis quoque regni coelorum januam aperuerit. (…) Christus pro peccatis totius mundi mortuus est, quare et parvuli non sunt hac justificatione et reparatione justitia Christi privandi, sed per baptismum in ecclesiam fidelium recipendi.“ ("Ich sehe nicht ein, warum dieses Sakrament der Taufe den Kindern entzogen werden soll, zumal Christ, der Herr, auch für die Kinder starb und, nachdem ihre Schuld genommen und ihre Sünde verdammt wurde, auch ihnen die Pforte des Himmelreichs öffnete. Was auch immer die Übertretung Adams zerstörte, die Rechtfertigung Christi, des Herrn, hat es wieder gut gemacht, denn Christus starb für die Sünden der ganzen Welt, und deshalb sollten die Kinder von dieser Rechtfertigung und Wiederherstellung nicht ausgeschlossen bleiben, sondern durch die Taufe in die Kirche der Getreuen aufgenommen werden“). Doch Warnungen aus Wittenberg und Vermutungen zu seiner Abendmahlsauffassung (→Abendmahl) führten schon im Juni 1543 zu seiner Entlassung aus Königsberg. Da Westerburg bei Johannes a Lasco Vertrauen genoss, begab er sich zu ihm nach Emden. Mit der Ende Juli 1543 erfolgten Annahme des von Martin →Bucer und Philipp →Melanchthon für den Kölner Erzbischof ausgearbeiteten Reformprogramms, erhielt Westerburgs lang gehegtes Projekt einer Reformation seiner Heimatstadt wieder konkrete Züge. 1545 beteiligte er sich mit vier Flugschriften an den Auseinandersetzungen um die Kölner Reformation und versuchte im Auftrag a Lascos durch direkten Kontakt mit Heinrich →Bullinger, die kirchliche Verbundenheit zwischen Emden und Zürich zu stärken. Zwei Jahre später befand sich Westerburg bei Bremen, wo seit Mitte 1547 der auch am Kölner Reformationsversuch beteiligte Albert Hardenberg als evangelischer Domprediger tätig war. Enttäuscht reagierte Westerburg 1547 mit der Flugschrift Von dem großen Betrug, List und Verführung etlicher Gelehrten und Geistlichen der Stadt Köln auf den erneut gescheiterten Reformationsversuch in seiner Heimatstadt.

Mit seinen Brüchen und theologischen Verschiebungen spiegelt Westerburgs Lebensweg in einzigartiger Weise die Bandbreite zwischen täuferischem Dissens und obrigkeitsgelenkter Reformation. Er starb 1558 in der ostfriesischen reformierten Gemeinde Dykhausen (bei Neustadt-Goedens).

Quellen

Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts, Abt. 1, Band 22, Stuttgart 1995, (1523) W 2213–2218, (1525) F 2308 f., (1533) W ZV 15506, (1545) W 2210–2212, 2219 u. 2221, (1547) W 2220. - Beschlüsse des Rates der Stadt Köln, bearb. von Manfred Groten, Bde. 3 und 4 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 65, 3 und 4), Düsseldorf 1988. - Paul Tschackert, Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogtums Preußen, Band 3 Leipzig 1890 (repr. Osnabrück 1965),17–40. - Karl und Wilhelm Krafft (Hg.), Briefe und Dokumente aus der Zeit der Reformation, Elberfeld 1876, 84–91; Quellen zur Geschichte der Täufer VIII/ Elsass 2, hg. von Manfred Krebs und Hans Georg Rott, Gütersloh 1960, 298 f.

Literatur

Georg Eduard Steitz, Dr. Gerhard Westerburg der Leiter des Bürgeraufstandes zu Frankfurt a.M. im Jahre 1525, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, NF. 5, Frankfurt/ M. 1872, 1–215. - Leonhard Ennen, Geschichte der Stadt Köln, Band 4, Köln/ Neuss 1875, 241–263, 295–296, 303–305, 337–338, 344–346, 353, 494. - Karl Rembert, Die Wiedertäufer im Herzogthum Jülich, Berlin 1899, 33–45, 137 f., 216 f. - W. J. Rempel, Jetzt auch die Grabtafel von „Dr. Fegfeuer“ gefunden. Der Wiedertäufer Dr. Gerhard Westerburg als Prediger in Dykhausen. Weg eines sozial-religiösen Revolutionärs, in: Unser Ostfriesland, Beilage zur Ostfriesenzeitung, 1961, Nr. 5. - Hans Stiasny, Die strafrechtliche Verfolgung der Täufer in der freien Reichsstadt Köln, Münster 1962, 10–15, 21–23. - Paul Tschackert, Urkundenbuch zur Reformationsgeschichte des Herzogthums Preußen, Bd. 3, (repr. Osnabrück 1965), 20 ff. - Hildegard Westhoff – Krummacher, Barthel Bruyn der Ältere als Bildnismaler, München 1965, 97–100. - Calvin Augustine Pater, Westerburg: The Father of Anabaptism. Author and Content of the Dyalogus of 1527, in: Archiv für Reformationsgeschichte 85, 1994, 138–162. - Christie's [Katalog], Important Old Master & British Pictures. Evening Sale Tuesday 2 December 2008, London 2008, 41–45 [44: farbige Detailabb. der Hand des 1524 von B. Bruyn porträtierten Mannes mit Ring-Hausmarke]. - Russel S. Woodbridge, Gerhard Westerburg: A Genuine Anabaptist?, in: Mennonite Quarterly Review 83, 2009, 131–155.

Alejandro Zorzin

 
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